Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
war.
Neujahr. Diesen Sommer würde sie fünfzehn Jahre alt werden. Wie unwirklich das klang: Sommer! Sie hatte schon fast vergessen, dass es so etwas überhaupt gab – hatte sie schließlich kaum mehr hoffen dürfen, den Winter zu überleben. Doch sie würde leben, in diesem Winter und in dem darauffolgenden ebenfalls, und in dem danach. Ihre Angst war auf einmal verschwunden; nun machte sich ein eigenartiges Gefühl in ihr breit.
Reeva drehte sich um und kehrte zu ihrer Höhle zurück.
Teil 2: Der Prinz der Heilerin
Es duftete nach Frühling. Reeva, die gerade vor ihrer Höhle saß und einige verschlissene Kleider flickte, unterbrach ihre Arbeit und hielt ihr Gesicht in die warmen Sonnenstrahlen. Sie hätte diesen Duft kaum beschreiben können: Er war so süß und frisch, und gleichzeitig lag etwas merkwürdig Prickelndes darin, das einem Lust machte, zu laufen und zu tanzen.
Die Tiere verhielten sich, als würden sie dasselbe fühlen. Wenn sich Reeva auf ihren Streifzügen durch den erwachenden Wald umschaute und lauschte, schien alles in Bewegung zu sein: Die Vögel begrüßten den Frühling mit solch überschwänglichem Jubel, als hätten sie niemals etwas Vergleichbares erlebt, und durch das Unterholz raschelte es von kleinen, geschäftigen Tieren.
So lange hatte der Frühling auf sich warten lassen, dass es Reeva nun vorkam, als müssten sich ihre Augen erst langsam an all die Farben gewöhnen: Im zuvor grauweißen, tristen Wald leuchteten nun an jedem Zweig hellgrüne Blätter, und die Wiese vor der Höhle war mit bunten Blumen gesprenkelt. Es war auch schon die Zeit der ersten Heilpflanzen gekommen, die Reeva auf ihren Spaziergängen sammelte: zum Beispiel die Blattknospen der Birke, deren Aufguss gegen Gicht und Rheuma half; Schlüsselblumen und Veilchen gegen Husten; die Wurzel der Wegwarte gegen Verdauungsprobleme und viele mehr. Dabei wurde sie stets von Ramo begleitet, der übermütig mal hierhin, mal dorthin sprang und die Gelegenheit auch zum Mäusefang nutzte. Katzengleich schlich er sich an, das Fell gesträubt, die bernsteinfarbenen Augen konzentriert auf seine Beute geheftet. Dann, ohne jegliche Vorwarnung, machte er einen gewaltigen Satz, packte die Maus mit den Zähnen und erlegte sie durch einen schnellen Genickbiss.
In den vergangenen Wochen hatte der Fuchs sich verändert – auch ihm war der Frühling in die Glieder gefahren. Wenn Reeva sich nach einer ausgedehnten Wanderung wieder auf den Heimweg machte, blieb er oft stehen und wandte den Kopf in Richtung des Waldesinneren. Witternd bewegte er die Schnauze und folgte dem Mädchen erst nach mehrmaligem Rufen widerwillig in die Höhle. Reeva wusste, dass sie ihn nicht mehr länger halten konnte – der Wald lockte ihn, und sie vermochte nichts dagegen zu tun.
Eines Abends war es dann so weit: Als sich Reeva mit den Worten „Komm, Ramo, lass uns nach Hause gehen“ umwandte, gehorchte ihr der Fuchs nicht. Mit angespannten Muskeln und aufgerichteten Ohren saß er da und betrachtete das Mädchen durch seine schlitzförmigen Pupillen. Anschließend setzte er sich in Bewegung und ging von Reeva fort, in den Wald hinein. Das Mädchen blickte ihm nach, doch er drehte sich nicht mehr zu ihm um. Immer schneller wurde er, und schließlich verschwand die weiße Spitze seiner Lunte zwischen den Bäumen.
***
Nun, da ihr Füchslein fort war, schien es, als wäre seine Rastlosigkeit auf Reeva übergesprungen. Ihr Tag war angefüllt mit Tätigkeiten, die sie eigentlich vollauf beschäftigen mussten: Sie ging jetzt wieder die Fallen ab und jagte auch ab und zu, hackte Holz, holte Wasser, kochte und sammelte Kräuter auf der Wiese und im Wald; doch dabei fühlte sie ein ständiges Nagen, das sie niemals zufrieden werden ließ … Und plötzlich kehrte auch die Gabe, die während des Winters geruht hatte, mit aller Macht zurück.
Es war an einem besonders milden Abend, an dem Reeva während ihrer Wanderung die Zeit übersehen hatte. Die Dunkelheit kroch bereits zwischen den Bäumen hervor, wo sie sich tagsüber verborgen hatte, und die Vögel verschwanden in ihren Nestern. Um so schnell wie möglich zu ihrer Höhle zu gelangen, wählte Reeva einen anderen Weg als den, welchen sie üblicherweise benutzte. Als sie auf dieser Abkürzung ein Gestrüpp überwinden musste, ließ eine heftige Bewegung sie zusammenfahren: Sie hatte ein Reh aufgeschreckt, das nun ängstlich floh. Der schlanke Schatten war gerade noch zwischen den Stämmen
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