Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
die mit Bettwäsche oder Tabletts in den Händen durch die Gänge eilten. Reeva mit ihrem Korb fiel da nicht weiter auf, und zu ihrer eigenen Überraschung fand sie ohne Hilfe den Weg nach draußen. Nach der langen Nacht fühlte sie sich müde und wie zerschlagen. Sobald sie den Rand des Marktplatzes erreicht hatte, suchte sie sich ein sicheres Plätzchen hinter einigen Fässern und Kisten; dort sank sie augenblicklich in tiefen Schlaf.
***
„Reeva? Mädchen, endlich finde ich dich hier!“
Reeva hörte das atemlose Rufen hinter sich und hob den Kopf. Sie hatte gerade mit kleinen, sorgfältigen Stichen die Wunde genäht, welche sich ein Bauer bei einem Karrenunfall zugezogen hatte. Nun rückte sie den Verband zurecht und drehte sich um. Freudestrahlend erkannte sie Joseph, der durch das Gedränge auf dem Marktplatz auf sie zueilte. Seit jenem Abend, an dem er sie ins Schloss gebracht hatte, waren fast zwei Wochen vergangen, und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Als Joseph sie erreicht hatte, packte er sie am Arm, sodass sie die Nadel fallen ließ. Vorsichtig löste sie sich aus seiner Umklammerung und wartete dann schweigend darauf, dass er wieder sprechen konnte: „Seit Tagen suche ich dich schon! Wo hast du dich bloß herumgetrieben?“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll, was Reevas Verwunderung nur noch steigerte.
„Ich habe einige Hausbesuche bei Patienten gemacht“, erwiderte sie, „vielleicht hast du mich immer verfehlt.“ Plötzlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Joseph war so aufgebracht – konnte das bedeuten, dass … „Ist etwas geschehen? Geht es dem Prinzen wieder schlechter?“, stieß Reeva erschrocken hervor, doch sie hielt verwirrt inne, als Joseph zu lachen begann.
„Schlechter? Gott behüte, nein! Hast du denn noch nichts gehört? Alle Menschen sprechen doch davon, das ganze Schloss ist in Aufruhr – man sucht nach der geheimnisvollen Heilerin, die heimlich nachts zum Prinzen kam, um ihn zu retten. Ich musste wohl oder übel mit der Sprache herausrücken und hätte wahrscheinlich meine Arbeit verloren, wenn Seine Majestät, der König, nicht so glücklich wäre. Reeva, seit jener Nacht geht es mit dem Prinzen bergauf, und mithilfe deiner Arzneien konnten die Leibärzte das Übrige dazutun. – Du musst mich begleiten!“, rief er übergangslos und wollte das völlig verdutzte Mädchen auf die Beine ziehen. Da, endlich, kam auch Reeva zu Wort:
„Joseph, hör mir zu! Ich bin froh, dass ich den Prinzen heilen konnte, doch ich möchte nicht mit dir zum Schloss kommen. Ich habe meine Arbeit getan, und damit ist es gut.“
Der Mann hatte sich inzwischen etwas beruhigt; nun ging er vor Reeva in die Hocke, sodass seine Augen mit den ihren auf gleicher Höhe waren. „Ich weiß, dass du dich fürchtest“, sagte er eindringlich, „aber das musst du nicht. Alle sind überglücklich, und du sollst reich belohnt werden. – Reeva, es ist ein Befehl des Prinzen!“
***
Der Prinz saß aufrecht in seinem prunkvollen Bett, einige stützende Kissen hinter sich. Immer noch war er sehr blass, und um seine eisblauen Augen lagen dunkle Schatten, doch der fiebrige Schleier war völlig aus ihnen verschwunden.
Als das Mädchen von einem Dienstboten ins Zimmer geschoben wurde, richtete er sich noch ein wenig mehr auf. Reeva blieb am Eingang stehen, den Rücken gegen das geschnitzte Holz gedrückt. Fast schien es, als wollte sie die Flucht ergreifen; doch als der Prinz die Augen einen Moment lang wortlos über ihre dünne Gestalt und ihr schmutziges Gesicht wandern ließ, erwiderte sie seinen Blick, ohne zu blinzeln.
Endlich begann der Prinz zu sprechen. Seine Stimme war tief, doch noch nicht ganz die eines erwachsenen Mannes: „Ich habe dich rufen lassen, weil ich dir danken möchte. Und, um ehrlich zu sein, wollte ich auch den Menschen sehen, der in der Lage war, mich zu heilen.“
Falls er über ihren Anblick überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. So bleich und erschöpft er auch wirken mochte, seine Miene war doch würdevoll und stets darauf bedacht, keine Schwäche zu zeigen. Es folgte keine Reaktion, aber der Prinz fuhr unbeirrt fort: „Weshalb bist du einfach verschwunden? Warum hast du nicht gewartet, um deine Belohnung zu empfangen? – Du nimmst doch auch von den anderen Menschen Lohn für deine Arbeit, habe ich mir sagen lassen.“
Immer noch stand die Heilerin dicht an der Tür, bereit wegzulaufen; doch plötzlich tönte ihre Stimme
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