Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
„Du hast die ganze Nacht Zeit und wirst – sollte es keinen unerwarteten Zwischenfall geben – ungestört bleiben. Ich kenne auch den zweiten Wächter gut und werde ihm nun ein wenig Gesellschaft leisten. Ich weiß, dass er zu einigen Bechern gutem Branntwein nicht nein sagen kann, selbst wenn er eigentlich Wache halten müsste.“ Er wies auf die Krüge auf seinem Tablett. „Sofern alles gelingt, wirst du ihn schlafend vorfinden, wenn du die Gemächer Seiner Majestät wieder verlässt. Und nun geh, bevor der Wächter hier ankommt. Geh!“
Er öffnete die hohe Tür und schob Reeva hindurch. Als sie zurückblickte, um noch etwas zu sagen, hatte er den Eingang bereits wieder verschlossen.
Der Prinz lag in einem mächtigen, reich verzierten Bett inmitten von unzähligen bestickten Decken und Kissen. Das dunkle Haar klebte in feuchten Strähnen an seiner Stirn, und seine Augenlider zuckten. Eine Weile stand Reeva einfach nur da und ließ ihren Blick auf dem Jungen ruhen, denn das war er: ein Junge, nur zwei oder drei Jahre älter als sie. Nichts deutete darauf hin, dass er eines Tages über das ganze Land herrschen würde, wie er so fiebernd dalag; einzig das prunkvolle Bett, das nicht im Entferntesten an die einfachen Schlafstätten der Bauern erinnerte, zeugte von seiner Herkunft.
Plötzlich fuhr der Prinz zusammen und begann in einem Fiebertraum um sich zu schlagen; das löste Reeva aus ihrer Erstarrung. Leise trat sie näher, um ihm eine Hand auf die Stirn zu legen. Er glühte förmlich, und sein Atem ging in raschen, mühsamen Stößen. Reeva öffnete sein Hemd, um ihn zu untersuchen; dabei fiel ihr Blick auch auf eine frische Wunde an seinem Arm: Sie stammten von einem kürzlich vorgenommenen Aderlass, der, wie das Mädchen befürchtete, dem Kranken womöglich das letzte bisschen Kraft geraubt hatte.
Schließlich richtete sich Reeva wieder auf und biss sich nervös auf die Unterlippe. Der Prinz würde den nächsten Morgen vielleicht nicht erleben. Diese schreckliche Gewissheit ließ sie frösteln, doch sie wusste auch, dass es noch Hoffnung gab: Wenn es ihr gelang, den Jungen durch die Nacht zu bringen, und wenn sich sein Zustand in dieser Zeit auch nur ein wenig verbesserte, konnte er wieder gesund werden.
Reevas Körper straffte sich; entschlossen strich sie ihr Haar zurück, um sich selbst Mut zu machen. Dann ging sie zu dem Kamin, der sich gegenüber vom Krankenbett befand, und legte so viel Holz nach, dass das Feuer hoch aufloderte. Einen Kessel und genügend Wasser in Krügen hatten die Leibärzte zurückgelassen, sodass sie sich gleich an die Arbeit machen konnte. Mit einer raschen Handbewegung fegte sie die Tücher beiseite, die einen kleinen Tisch neben dem Kamin bedeckten, und breitete stattdessen den Inhalt ihres Bündels vor sich aus. Bald erfüllte der Duft von Kräutern das Zimmer und vertrieb beinahe den Krankheitsgeruch. Als Reeva beim Zerstoßen einer Wurzel ein besonders intensives Aroma in die Nase stieg, musste sie in ihrer Arbeit einen Moment lang innehalten. Meisterwurz war es, gegen das hohe Fieber. Die erste Pflanze, die Enva ihr damals im Kräutergarten erklärt und einer heimatlosen Waise somit eine Bedeutung geschenkt hatte: das Heilen.
Die Erinnerung an jene Zeit, die Jahre zurückzuliegen schien, verlieh Reeva neue Kraft. Nach dem Zerreiben der Wurzel dieser magischen Pflanze, wie Enva sie genannt hatte, goss sie etwas Wein darüber und trat zum Bett, um dem Prinzen die Medizin einzuflößen. Behutsam richtete sie ihn auf und setzte den Becher an seine aufgesprungenen Lippen; etwas von der roten Flüssigkeit rann aus seinem Mundwinkel und über sein Kinn, aber den Großteil schluckte er. Dann bettete ihn das Mädchen wieder auf seine Kissen und eilte zurück zum Kessel, in dem bereits ein weiterer Trank brodelte.
Es sollte ein harter Kampf werden, ein Kampf um das Leben des Prinzen. Bald schmerzten Reevas Hände von der Arbeit, und ihr Gesicht war von der Hitze des Kaminfeuers schweißüberströmt. Sie versuchte alles, was sie von Enva gelernt hatte, um dem Kranken das Fieber aus dem Körper zu ziehen und ihm das Atmen zu erleichtern; aber langsam verlor sie den Glauben an das, was sie tat. Immer wieder untersuchte sie den Prinzen, hielt nach einem noch so kleinen Anzeichen der Besserung Ausschau, doch vergeblich: Das Fieber ließ ihn nicht los. Als die Mitte der Nacht schon überschritten war, konnte Reeva einfach nicht mehr. Sie lehnte sich gegen die Wand und glitt daran
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