Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Handwerker im Holz hinterlassen hatte und die sich nach und nach zu einem Muster aus Ranken und Blumen verschlang. Reeva wünschte, diese Pflanzen wären echt: Sie hätten in das Gemach, welches trotz seiner Pracht seltsam kahl wirkte, ein wenig Leben bringen können.
Das Mädchen nahm die Hand vom Bettpfosten und setzte seinen Weg fort, immer begleitet vom leisen Klicken seiner Absätze. Von irgendwoher glaubte es, einen kalten Luftzug zu spüren, der es im Nacken streifte; doch als es den Kopf wandte, fand es die Tür immer noch verschlossen vor: Steingesicht war nicht zurückgekehrt. Reeva schaute wieder nach vorne – und entdeckte auf einmal etwas, das sie in einem Zimmer wie diesem kaum erwartet hätte.
An der hintersten Wand hing ein Käfig, in dem ein kleiner, bunt gefiederter Vogel saß. Zunächst jedoch glaubte Reeva nicht, tatsächlich ein lebendiges Wesen vor sich zu haben: Das Tier hockte völlig regungslos auf seiner Stange, ruckte nur manchmal mit dem Köpfchen und pickte einmal kurz an dem Futter in einer Schale. Dann saß es wieder stumm da. Selbst als Reeva leise mit dem Vogel zu sprechen begann und schließlich eine Melodie summte, zwitscherte er kein einziges Mal; geschweige denn, dass er sang. Im Geiste verglich das Mädchen ihn mit den Vögeln im Wald – und es glaubte, niemals zuvor etwas derart Trostloses gesehen zu haben.
Den Rest des Tages brachte Reeva damit zu, in dem Zimmer auf und ab zu schreiten. So groß es ihr auch anfangs erschienen war, allmählich kam es ihr vor wie ein Gefängnis. Natürlich ein prunkvolles Gefängnis mit allen Annehmlichkeiten, doch das änderte nichts an dem Gefühl des Eingesperrt-Seins, welches das Mädchen beschlich.
Als schließlich die Sonne untergegangen und der leblose Vogel bereits eingeschlafen war, zog Reeva das Nachthemd über, das Steingesicht bereitgelegt hatte, und stieg in das wuchtige Bett. Mit halb aufgerichtetem Oberkörper lag sie in den Kissen und spürte, wie schwer die zahlreichen Decken auf ihr lasteten. Unwillkürlich fuhr sie mit den Händen immer und immer wieder über den edlen Stoff, um jede einzelne Falte zu glätten – sie fühlte sich wie ein Eindringling im Bett eines Fremden. Im Dunkeln erschienen ihr die vier Pfosten noch mächtiger, als sie tatsächlich waren, und sobald Reeva langsam die Augen zufielen, schienen sie zu schwanken, als könnten sie jeden Moment auf sie stürzen. Dann riss sie sofort die Augen wieder auf und lag mit klopfendem Herzen da, während ihre Hände wie besessen die Decke glattstrichen … und strichen … und strichen …
Reeva schlief, doch es war kein ruhiger Schlaf. Immer wieder warf sie sich von einer Seite auf die andere und verhedderte sich dabei in ihrem langen Nachthemd. Einmal wäre sie beinahe aus dem Bett gefallen; noch mitten in einem Albtraum öffnete sie die Augen und fand sich ungewohnt hoch über dem Boden wieder, gerade noch an der Kante kauernd. Sie war schweißgebadet und strampelte sich von den Decken frei; doch nun, ohne den schützenden Stoff über ihrem Körper, fühlte sie sich in dem gewaltigen Bett seltsam verloren.
Schließlich konnte sie es nicht mehr länger ertragen und stand auf. Der Stein fühlte sich unter ihren Füßen kalt, aber auch irgendwie beruhigend an. Mit entschlossenen Schritten ging sie zu der bemalten Truhe und holte das armselige Bündel zerlumpter Kleidung hervor. Nachdem sie sich des lächerlichen Nachthemdes entledigt und in ihr vertrautes Gewand geschlüpft war, breitete sie eine der Decken auf dem Fußboden neben dem Bett aus. Dann rollte sie sich zufrieden darauf zusammen und fand endlich den erholsamen Schlaf, nach dem sie sich gesehnt hatte.
Als Steingesicht sie am nächsten Morgen so sah, verzog sie keine Miene und verlor auch kein Wort über das eigenartige Benehmen des Gastes. Schweigend wie am Vortag half sie Reeva in die feinen Kleider, kämmte ihr Haar und brachte ihr ein Tablett mit einem üppigen Frühstück. Was war schon das grobe, selbstgebackene Brot der Bauern gegen dieses knusprige Gebäck? Was waren die getrockneten Waldbeeren gegen diese fremdländischen, mit Honig gesüßten Früchte? Reeva aß, bis sie beim besten Willen keinen Bissen mehr herunterbringen konnte, und fragte sich gleichzeitig, wann sie sich das letzte Mal etwas Derartiges hatte leisten können.
Doch nach dem Frühstück begann ein neuer Tag der Einsamkeit. Wieder wanderte Reeva in ihrem Zimmer auf und ab, wieder versuchte sie vergeblich, den kleinen
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