Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ruhig und klar zu ihm herüber. „Das ist wahr. Ich nehme so viel, wie ich für mein Auskommen brauche; deinen Goldschatz aber brauche ich nicht.“ Der Prinz hob leicht eine Augenbraue, aber ansonsten blieb sein Gesichtsausdruck unverändert. „Soll das heißen, wenn ich dir etwa einen Laib Brot wie all die Bauern und Tagelöhner geben würde, dann würdest du ihn annehmen?“
„Nein, denn meine Arbeit war mehr wert als das. Würdest du mir etwas geben, das dir so viel wert ist wie das Brot einem hungrigen Bettler, so müsstest du mir das halbe Schloss überlassen.“
Es folgte ein langes Schweigen. Der Prinz runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken: Noch nie hatte es jemand gewagt, so mit ihm zu sprechen – und doch zeugte die schlichte, ehrliche Art der Heilerin nicht von Respektlosigkeit. Nein, sie brachte ihm sehr wohl die Achtung entgegen, die er verdiente; nur war sie in keiner Weise unterwürfig. Für einen kurzen Augenblick spürte der Prinz beinahe so etwas wie Unsicherheit: Er schwankte zwischen Lachen und Zorn. Dann aber überwog die Faszination, die dieses sonderbare Mädchen auf ihn ausübte und die ihn vielleicht sogar aus seiner einsamen Langeweile befreien konnte.
Endlich nickte er der Gestalt an der Tür zu und sprach wie einer, der es gewohnt war, erhört zu werden: „Du kannst gehen, Heilerin. Doch ich denke, wir werden uns wohl bald wiedersehen.“
Reeva konnte sich nicht erklären, was es mit dem letzten Satz des Prinzen auf sich hatte. Sie war sich nicht sicher, ob er wütend auf sie gewesen war; aus irgendeinem Grund, so schien ihr, hatte sie ihn mit ihren Worten verärgert. Doch in Wahrheit spielte das gar keine Rolle: Was auch immer der Prinz mit dem merkwürdigen Abschied gemeint haben mochte, Reeva glaubte nicht daran, dass sie ihm jemals wieder gegenüberstehen würde. Im Laufe des Tages vergaß sie ihn und das mit ihm geführte Gespräch über ihrer Arbeit völlig – aber in der Nacht, als sie zusammengerollt auf einigen leeren Säcken schlief, hatte sie einen seltsamen Traum.
Ein Mann mit bereits ergrauten Schläfen stand am Fenster einer reich ausgestatteten Bibliothek. Niemand anderer als der König war es, der dort nach draußen blickte und dem Raum den Rücken zukehrte. Als sein Sohn eintrat, wandte er sich um und blickte in die hellen Augen, die den seinen auffallend ähnelten.
„Vater, ich möchte mit Euch sprechen.“ Die Stimme des Prinzen klang angespannt. Er ließ die Fingerspitzen über einige Buchrücken gleiten, während er an einem Regal entlang auf den König zuging. „Ihr wisst, dass ich heute die Heilerin zu mir bringen ließ – jenes Mädchen, das mich vor dem Tod gerettet hat?“
„Ja, ich hörte davon“, meinte der König. „Ein freches Ding, das mit seiner Belohnung nicht zufrieden war, habe ich mir sagen lassen. Als ob dieses Lumpenmädchen es sich leisten könnte, etwas Derartiges auszuschlagen!“
„Es war nicht so, wie man es Euch erzählt hat“, erwiderte der Prinz steif, „doch das ist nun nicht von Bedeutung. Vater, ich möchte Euch um etwas bitten: Ich wünsche mir, dass dieses Mädchen als meine Gesellschafterin eingestellt wird. Es soll im Schloss wohnen und jederzeit zu mir kommen können, wenn ich es rufe.“
„Ich werde dir diesen Wunsch erfüllen, aber was willst du mit so einer schmutzigen Bettlerin?“, fragte der König irritiert.
Fast unmerklich schob der Prinz das Kinn vor, doch mit gezwungener Gleichgültigkeit antwortete er: „Ich weiß es nicht – vielleicht hatte ich bisher einfach zu wenig Gelegenheit, mich mit einer ‚schmutzigen Bettlerin’ zu unterhalten?“
Das Bild löste sich langsam auf, während Reeva erwachte. Zunächst maß sie dem Ganzen nicht viel Bedeutung bei und glaubte, bald alles wieder vergessen zu haben; doch anders als bei den Träumen, die sie normalerweise hatte, blieb ihr noch Stunden später alles gestochen scharf im Gedächtnis. Sie ahnte, dass es sich um eine Vision gehandelt hatte, und dass sie sich nicht dagegen hatte wehren können, weil ihr die Bilder im Schlaf erschienen waren. Deshalb war sie auch nicht besonders überrascht, als am folgenden Nachmittag Joseph erneut am Marktplatz auftauchte und ihr in hervorsprudelnden Worten den Wunsch des Prinzen mitteilte.
„Du wirst in einem prächtigen Zimmer schlafen, feine Kleider tragen und täglich gut und reichlich zu essen bekommen!“, schwärmte er ihr vor, als er ihr Zögern bemerkte. „Weiß Gott, wie du den
Weitere Kostenlose Bücher