Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kira Gembri
Vom Netzwerk:
wenigstens einen Teil von dem zurückzahlen, was Jacobs Mutter alles für sie tat. Von diesem Tag an kam häufig ein Bote vom Schloss zu dem kleinen Haus und brachte einmal einen Sack voll Mehl, dann einen Korb mit Obst oder Fleisch, ein andermal Winterschuhe für die Kinder und Feuerholz. Die Freude darüber war groß, denn abgesehen von dem Hunger hatte ihnen allen auch die Kälte bereits zu schaffen gemacht.
    Nachdem diese Sorgen beseitigt worden waren, wurde das Leben in Jacobs Häuschen unbeschwerter. Reeva liebte es, mit den Kleinen herumzutollen, ihnen Geschichten zu erzählen oder sie abends ins Bett zu bringen: Ihre Tage waren wieder ausgefüllt; die Zeit, in der sie stumpf im Zimmer auf- und abgegangen war oder mit dem Finger das Muster einer Schnitzerei nachgezeichnet hatte, war endgültig vorüber.
    Der Winter kam, und Reeva bemerkte, dass sich ihr Spiegelbild veränderte. Sie war immer sehr mager gewesen: Damals im Dorf hatte sie von den Almosen der Leute oder gar von Resten des Schweinefraßes gelebt, und auch mit Enva hatte sie sich ihre Nahrung stets gut einteilen müssen. Der Winter im Wald hatte ihrem Körper besonders viel abverlangt, sodass sich unter ihrer Haut deutlich die Rippen abgezeichnet und sich ihre Hände knochig angefühlt hatten. Doch nun, da der Prinz sie mit genügend Essen versorgte und sie ihren Appetit durch das fröhliche Leben bei Jacobs Familie wiedererlangt hatte, wurde ihr Körper langsam weicher und ihr Haar voll und glänzend. Die raffiniert geschnittenen Kleider, die sie im Schloss hatte tragen müssen, hätten ihr nun wohl gepasst: Aus dem dürren, vernachlässigten Mädchen wurde eine junge Frau.
    Auch der Prinz schien das zu bemerken. Während der Gespräche mit ihr sah er sie oft von der Seite an, und manchmal, wenn er dicht an ihr vorbeiging, berührte er wie zufällig ihr Haar oder ihren Arm. Reeva fragte sich, was für ein Zauber das wohl sein mochte, der aus solch kleinen Berührungen etwas so Großes werden ließ – unsicher versuchte sie abzulenken und sagte einmal hastig:
    „Ich habe dir schon so viel über mein Leben erzählt; erzähle nun doch von deinem!“
    Der Prinz zog seine Hand zurück; wie so oft verwandelte sich sein Gesichtsausdruck innerhalb eines Lidschlages in das genaue Gegenteil. Er wirkte jetzt abweisend, als er murmelte: „Da gibt es nicht viel zu erzählen.“
    Reeva kannte ihn gut genug; schweigend wartete sie ab. Schließlich begann der Junge doch zu sprechen und strafte sich selbst Lügen: Es gab viel zu erzählen. Es schien sogar so viel zu sein, dass er gar nicht mehr aufhören konnte zu reden; die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Er berichtete von Zwängen, von Einsamkeit, Langeweile und eisigem Prunk. Er beschrieb das Verhältnis zu seinem Vater, dem König, das perfekt in das Schloss passte: Nach außen hin wirkte es fehlerlos, doch in Wahrheit war es kalt und distanziert. Wovon er sprach, waren die Sorgen eines verwöhnten, alleingelassenen Jungen, der nun bald ein Mann sein würde und von dem vieles, zu vieles abhing.
    Dann schwieg er, zog die Knie an und umschlang sie mit seinen Armen, sodass er jünger wirkte, als er tatsächlich war. Irgendwann meinte er bitter: „Du siehst, weshalb ich immer Geschichten vom Wald hören wollte. Dein Leben dort war so viel einfacher, so viel lebenswerter.“
    Zuerst erwiderte Reeva nichts, denn war sie nicht selbst aus dem Schloss geflohen? Doch dann spürte sie, dass es nicht so einfach sein konnte. Der Prinz war nicht wie sie; er kannte nichts anderes, und er hatte Zeit gehabt, in diesen Ort hineinzuwachsen.
    Mit einem leichten Kopfschütteln sagte sie: „Du vergisst, dass ich im Wald um die grundlegendsten Dinge kämpfen musste: Nahrung, Kleidung und Wärme. Davon hast du hier reichlich und noch mehr – und trotzdem erscheint dir dein Leben ärmer, leerer?“
    Der Prinz setzte an, zu widersprechen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Hör mir zu! Du weißt selbst, dass du über große Macht verfügst und bald noch mehr davon besitzen wirst. Du müsstest auch wissen, wie viel du damit schaffen könntest! Aber mit deiner Unruhe und deinen Wutanfällen, in denen du dich vor deinen Ängsten versteckst, erreichst du nichts. Nichts! Du solltest endlich damit aufhören und dich dem stellen, wovor du dich fürchtest, denn dir bleibt nicht mehr viel Zeit: Bald wirst du König sein, nachdem dein Vater bei einem Jagdunfall gestorben ist.“
    Erschrocken brach Reeva ab und biss sich auf

Weitere Kostenlose Bücher