Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Schulter und schob den Daumen in den Mund.
Als Jacobs Mutter wenig später zum Essen rief, waren auch schon die übrigen drei Geschwister vom Herumtollen im Freien zurückgekehrt. Sie brachten einen Korb voll Äpfel, Schrammen an den Knien und vor allem großen Hunger mit; so kam es auch zu der einen oder anderen spielerischen Rangelei, als sie sich alle im Kreis niedersetzten und gemeinsam aus derselben Schüssel aßen. Die Kinder löcherten Reeva mit Fragen über das Schloss, den Prinzen und ihre Höhle im Wald; so lange, bis ihr großer Bruder drohte, die nächste „Nervensäge“ in den hohen Baum vor dem Haus zu setzen.
Es wurde viel geredet und gelacht, und Reeva musste an die prunkvolle Tafel in der Schlosshalle denken. Wie viel wohler fühlte sie sich hier, auf dem gestampften Lehmboden des kleinen Häuschens sitzend und unter lauter fröhlichen, einfachen Menschen! Besonders gut gefiel ihr Jacobs Mutter, die vor nicht allzu langer Zeit Witwe geworden war. Dass sie es schaffte, ohne Mann eine ganze Kinderschar großzuziehen und sich dabei ihre Lebensfreude zu bewahren, bewunderte Reeva und erinnerte sie an die ruhige Stärke Envas.
Was sie jedoch nicht bemerkte, war, dass Jacobs Mutter ihr ab und zu einen kurzen Blick von der Seite her zuwarf. Die Frau beobachtete, wie ausgelassen Reeva nun wirkte, und verglich dieses Bild mit dem, welches Jacob ihr nach der ersten Begegnung mit dem Mädchen beschrieben hatte: das blasse Gesicht, die müden Augen, die klammen Finger. Sie wusste, dass Reeva in der kalten Glanzwelt des Schlosses früher oder später zerbrechen würde; vermutlich eher später, denn sie schien widerstandsfähig zu sein, doch irgendwann gewiss.
Jacob brachte das Mädchen zum Schloss zurück, das nur einige Gehminuten von seinem Zuhause entfernt war. Es war spät geworden, und die ersten Sterne zeigten sich bereits am Himmel. Fröstelnd hüllte Reeva sich in ihren Umhang; doch in ihrem Bauch glaubte sie immer noch die Wärme der Suppe zu spüren, genauso wie ihr das sorglose Kinderlachen noch in den Ohren klang. Als sie sich von Jacob verabschiedete, sah sie ihm fest in die Augen und sagte ehrlich: „Danke. Es war ein schöner Abend. Ich bin froh, dass ich dabei sein durfte.“
Nachdenklich erwiderte der Junge ihren Blick. „Jederzeit, Reeva“, antwortete er, „jederzeit.“
***
Es wurde rasch kälter, und obwohl die Bäume noch viel buntes Laub trugen, gab es nachts schon manchmal Frost. Während Reevas Besuchen beim Prinzen kam nun häufig eine Dienstmagd herein, um Feuerholz nachzulegen und das Zimmer ordentlich zu heizen; doch sie wurde jedes Mal mit einer ungeduldigen Handbewegung fortgeschickt.
Langsam gingen Reeva die Geschichten über ihre Zeit im Wald aus, doch der Prinz war unermüdlich mit seinen Fragen. Er wollte mit ihr reden, über bedeutsame und über nebensächliche Dinge, das war ihm gleich; wenn sie nur bei ihm war und ihn aus seiner Langeweile herausholte.
„Was wirst du später einmal tun, Reeva?“, fragte er und zog ein wenig seine dunklen Brauen zusammen. „Mein zukünftiger Lebensweg wurde für mich noch vor meiner Geburt festgelegt. Aber du – du hast alle Freiheit der Welt. Was wirst du damit anfangen? Wo wirst du in ein paar Jahren sein? Du kannst doch nicht immer einsam im Wald leben!“
„Vielleicht nicht.“ Reeva hob die Schultern, doch der Prinz ließ nicht locker.
„Also dann?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe es mir selbst schon überlegt – doch wohin passe ich, wo würden mich die Leute haben wollen? Kannst du dir mich als Ehefrau eines Bauern vorstellen?“ Sie dachte an die junge gesprächige Bauersfrau und ihren kleinen Sohn.
„Nein, das kann ich nicht“, gab der Prinz zu, doch er schien das Interesse an dem Thema bereits verloren zu haben. Das geschah manchmal – immer noch war er launisch und unruhig, ohne dass Reeva etwas dagegen hätte tun können.
Nun stand er auf und verschwand im Nebenzimmer; als er wiederkam, trug er eine kleine Schachtel in den Händen. „Hier, das ist für dich“, sagte er knapp und stellte sie vor Reeva auf den Tisch.
„Für mich?“, wiederholte sie etwas hilflos. „Aber was ist es? Und weshalb gibst du es mir?“
„Ein Geschenk“, erklärte der Prinz ungeduldig, „und weil ich es möchte.“
Reeva griff nach der Schachtel und öffnete sie behutsam. Auf einem winzigen Kissen lag eine zarte, goldene Kette mit einem Smaragdanhänger in Form eines fein gezackten Blattes. Das Schmuckstück
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