Das Mädchen aus Mantua
schließen, dass er mit den Toten in Verbindung zu bringen ist?« Sie beantwortete die Frage selbst. »Nein, denn sie waren ja schon alle tot, als er in Padua eintraf.«
»Damit hast du zweifellos recht, folglich scheidet dein Bruder als Verdächtiger aus.« Vitale hob nachdenklich den Kopf. »Aber zugleich bringst du mich auf einen guten Gedanken. Marino könnte in meinem Auftrag die Augen offen halten! Vielleicht bemerkt er Auffälligkeiten, die für eine Lösung des Rätsels bedeutsam sind!« Er strahlte sie an. »Arcangela, ich danke dir! Du hast mir gerade eine Maßnahme aufgezeigt, an die ich vorher überhaupt nicht gedacht hatte! Ich werde deinen Bruder bei nächster Gelegenheit zur Seite nehmen und unter vier Augen mit ihm sprechen!« Vitale war sichtlich begeistert, während Arcangela sich stumm verfluchte. Gleichzeitig war sie außerstande, sich seiner Anziehungskraft zu entziehen. Seine Zähne blitzten und hoben sich weiß gegen den dunklen Bartschatten ab, und in seinen Augen stand ein Funkeln, das ihr Inneres erhitzte. Gegen ihren Willen schmolz sie dahin. Warum musste er nur so gut aussehen? Oder so gut riechen und sich so gut anfühlen? Sie wurde schon schwach, wenn er sie nur ansah!
»Ach, Vitale«, seufzte sie. »Was mache ich nur mit dir?«
»Da wüsste ich was.« Geschmeidig rollte er sich auf den Rücken und zog sie über sich. Seine Erregung war unverkennbar. Er umfasste ihre Hüften und drückte sich gegen sie. »Du bringst mich eben immer auf die besten Ideen!«
Celestina war bereits im Bett, als Arcangela von ihrem Schäferstündchen zurückkehrte. Ein schweres Anatomiebuch lag aufgeklappt auf ihrem Bauch, sie war darüber eingedöst. Von dem, was sie eigentlich noch hatte lesen wollen, war ihr nichts mehr in Erinnerung. Die Erschöpfung war zu groß gewesen. Ihr Körper fühlte sich an wie zerschlagen. Als ihre Stiefschwester das Gemach betrat, öffnete sie nur kurz die Augen, klappte das Buch zu und legte es weg, bevor sie sich auf die Seite drehte und die Augen wieder schloss.
»Du willst schon schlafen?«, fragte Arcangela. Sie zog die Läden vor und zündete eine Talgleuchte an.
»Ich habe schon geschlafen«, murmelte Celestina.
Arcangela begann, sich das Haar zu kämmen. »Es hat eben erst zur Komplet geläutet. Wo ist meine unternehmungslustige Schwester, die sonst die Nacht zum Tag macht?«
»Deine unternehmungslustige Schwester ist heute noch vor dem Primläuten aufgestanden. Es folgten Vorlesungen bis zum Mittag, danach stundenlanger Dienst im Krankenhaus, hinterher Repetitorium, anschließend ein lästiger Gang zur Schneiderin, danach endlose Abführmaßnahmen bei unserer Tante …«
»Oh, du warst bei der Schneiderin! Lässt du dir endlich ein neues Kleid nähen?«
»Nein.« Celestina gähnte und öffnete ein Auge. »Wenn überhaupt, bräuchte ich eine neue Hose. Aber vor allem brauche ich jetzt meinen Nachtschlaf.«
»Ich lasse dich gleich in Ruhe. Doch vorher muss ich dir wichtige Neuigkeiten berichten.« Arcangela räusperte sich und legte den Kamm weg. »Du darfst aber nicht böse auf mich werden! Es war nicht meine Schuld!« Sie besann sich. »Oder höchstens zum Teil. Der Rest ist Vitale zuzuschreiben, denn er war derjenige, der auf diese dumme Idee kam.«
Celestina öffnete das andere Auge. Das klang nicht gut!
Sie hörte sich an, was Arcangela ihr zu sagen hatte.
Danach war es mit ihrem Schlafbedürfnis vorbei.
Juli 1601 – darauffolgender Sonntag
Timoteo bewegte den Arm des Jungen vorsichtig in alle Richtungen. Er beugte und streckte ihn, hob und drehte ihn ein wenig im Bereich des Schultergelenks und fragte jedes Mal, wie es sich anfühlte.
»Es tut nicht weh«, sagte Giulio.
Sein Vater, der Gerber, stand daneben und nickte zufrieden. Nach seinem Dafürhalten hatte der junge Caliari gute Arbeit geleistet. Diese Auffassung hatte er seit Timoteos Eintreffen bereits mehrfach geäußert. »Auch wenn Ihr sagt, dass Ihr noch kein Medicus seid – besser hättet Ihr Eure Sache nicht machen können. Das habe ich auch dem Bader erzählt. Bevor ich diesem Scharlatan Prügel versprochen habe, für den Fall, dass er sich hier noch einmal blicken lässt.«
Timoteo hätte dem Pächter seines Vaters gern erklärt, dass bei der Heilung des Knaben vornehmlich Glück eine Rolle gespielt hatte. Und dass dem Bader vielleicht vorschnell die Tür gewiesen worden war, denn es gab sicher viele Bereiche, in denen dessen Können das eines studierten Arztes weit übertraf.
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