Das Mädchen aus Mantua
sein zu dürfen. Mit einer minutengenauen Sanduhr wollte er die genaue Zeitdauer feststellen, die das Schwein zum Ausbluten benötigte, und hinterher wollte er die exakte Blutmenge messen. Diverse Versuche, bei einem in Padua ansässigen Schlachter solche Messungen durchzuführen, waren auf wenig Gegenliebe gestoßen. Einige Male hatte er es wohl in Angriff nehmen können, doch waren die Ergebnisse unvollständig, weil man ihm das Blut nicht in Gänze überlassen, sondern das meiste zur Wurstgewinnung sogleich in dafür vorgesehene Behälter umgefüllt hatte. Auch hatte ständig einer der Metzgerlehrlinge sein Blickfeld gekreuzt und damit seine Konzentration beeinträchtigt, sodass der Prozess des Ausblutens nicht immer zuverlässig zur verstreichenden Zeit ins Verhältnis gesetzt werden konnte. Kurzum, er hatte bisher keine ordentliche Formel gewonnen. Eine solche brauchte er aber, um seine These vom Blutkreislauf mit belastbaren Beweisen zu untermauern.
William fieberte somit der Schweineschlachtung förmlich entgegen. Er war Timoteo zutiefst dankbar, dass er ihm die Gelegenheit verschaffte, unverzichtbare wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln.
Galeazzo für seinen Teil war nicht sonderlich versessen darauf, diese Beobachtungen zu teilen, doch er freute sich über jede Gelegenheit, die Freunde zu treffen, und sei es, um sich gemeinsam den Tod eines Schweins anzuschauen.
In den Ferien sahen sie sich seltener als sonst, und da er keine Familie hier hatte, fehlte ihm die fröhliche Gesellschaft. William war ein Bücherwurm, der sich tagsüber lieber seinen Studien widmete, und Timoteo war ebenfalls nicht so oft abkömmlich, wie es Galeazzo lieb gewesen wäre; während der großen Ferien hielt er sich oft zusammen mit seinem Bruder auf dem Land auf oder leistete seinem gelähmten Vater Gesellschaft. Galeazzo wusste, dass Timoteo diesen Pflichten eher aus Anstand nachkam als aus einem echten Bedürfnis heraus. Nicht von ungefähr wirkte der arme Kerl oft so grüblerisch und deprimiert, sobald er sich endlich einmal losgeeist hatte und zu einem ihrer Treffen erschien. Manchmal brauchte er Stunden, bis er die muntere, leicht spöttische Art wiedergefunden hatte, die eher seinem Charakter entsprach.
Die Verabredungen mit William und Timoteo waren für Galeazzo ein unverzichtbarer Bestandteil seines Lebens, fast so wichtig wie die Schäferstündchen mit Arcangela. Von denen hätte er wahrhaftig gern mehr gehabt, doch er musste sich mit dem begnügen, was sie ihm zuteilte. Vielleicht hätte er um ihre Gunst kämpfen können, aber solange sie selbst nicht richtig wusste, was – oder wen – sie eigentlich wollte, hielt er sich lieber zurück.
Die Liebe war unberechenbarer als der Wind. Nie wusste man vorher, welche Richtung sie nahm, ob sie stürmisch war oder sanft, oder ob eine kräftige Brise zur Flaute geriet.
Die Freundschaft mit Timoteo und William war dagegen von ehernem Bestand. Er wusste, dass er sich auch in Jahrzehnten noch auf sie verlassen konnte, sofern sie dann noch lebten.
Pfeifend trieb er sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Er passierte gerade eine Gruppe von Bäumen, als er das Weinen einer Frau hörte. Sofort zügelte er sein Pferd und folgte dem Geräusch. Er fand die Frau unter einem Baum. Sie saß in gekrümmter Haltung dort auf der Erde und wiegte sich schluchzend vor und zurück. In den Armen hielt sie ein Bündel, das sie an die Brust drückte.
Galeazzo stieg ab und näherte sich der weinenden Frau. Sie war einfach gekleidet, wie eine Magd oder Feldarbeiterin. Die Haube hing schief auf ihrem Kopf, die Röcke waren beschmutzt und die Bluse fadenscheinig.
Zu seinem Entsetzen sah Galeazzo, dass sie ein regloses Kind in den Armen hielt. Es war noch klein, kaum ein paar Wochen alt. Und dann erkannte er auch die Frau. Er war dabei gewesen, als sie das Kind geboren hatte, im Ospedale San Francesco. Gemeinsam mit den übrigen Studenten hatte er vor ihrem Bett gestanden und zugesehen, wie die Hebamme sie mit Celestinas Hilfe entbunden hatte.
Die Frau schien ihn überhaupt nicht zu bemerken. Sie hatte nur Augen für ihren reglosen Säugling. Ihr Gesicht war verweint und hochrot, und sie zitterte am ganzen Körper.
»Was ist mit dem Kind?«, fragte Galeazzo, obwohl er ahnte, dass es gestorben war. Die Frau blickte nicht auf, auch nicht, als er neben ihr in die Hocke ging und nach ihrer Hand fasste. Er schrak zurück, denn ihre Haut war so heiß, dass kein Zweifel bestand: Sie hatte
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