Das Mädchen aus Mantua
zitterte. Gähnende Leere hatte sich in seinem Kopf ausgebreitet. Wenn er sich bewegte, würde er vom Dach fallen und sich den Hals brechen, das war das Einzige, was ihm in den Sinn kam. Sonst nichts.
»Ich hoffe, du kannst mich verstehen«, meinte Hieronimo. »Sicher kannst du es, denn du bist mit ihrem Bruder befreundet, der ja ebenfalls ein Bertolucci ist.« Nachdenklich furchte er die Stirn. »Natürlich habe ich den Eklat mit Vater damit nur hinausgeschoben, irgendwann werde ich Farbe bekennen müssen. Doch ich hoffe, dass mir bis dahin etwas eingefallen ist. Ich werde einfach sagen, dass ich mich in sie verliebt habe und nicht mehr von ihr lassen kann. Und dann seinen Zorn ertragen.«
Forschend sah er Timoteo an. »Du sagst ja gar nichts.« Er hielt inne und suchte nach Worten. »Vielleicht denkst du, dass ich damit unsere Familienehre verrate. Die Bertolucci sind unsere Feinde, sind es immer gewesen. Glaub mir, ich hasse Lodovico nach wie vor, mein Herz schreit immer noch nach Rache. Doch um Celestinas willen bin ich bereit, darauf zu verzichten, denn sie ist es mir wert. Sie ist alles wert.« Hieronimo lächelte. »Seit heute weiß ich, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Ihre Blicke … das spürt ein Mann. Schon neulich, als sie mir von dem Globus erzählte … Und dann stand sie auf einmal heute vor mir, es war wie ein Wink des Schicksals.«
Timoteo konnte nicht länger auf dem Dach sitzen. Unbeholfen stellte er einen Fuß auf die Leiter, drehte sich herum und kletterte hinab. Nur um nicht stillstehen zu müssen, griff er sich einen Stapel Schindeln.
»Ich muss noch arbeiten«, brachte er krächzend hervor.
»Oh. Soll ich dir helfen?«
Timoteo schüttelte den Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hieronimo.
»Sicher.«
»Na gut. Dann mache ich mich wieder auf den Weg. Lass es nicht zu spät werden. Die Sonne geht bald unter.«
Schnalzend setzte er das Pferd in Bewegung und ritt davon. Timoteo blickte ihm mit brennenden Augen nach.
Am selben Abend, nach Einbruch der Dunkelheit
Celestina konnte nicht schlafen, obwohl sie die Erschöpfung bis in die Knochen spürte. Arcangela saß auf dem Bett, den geschienten Arm in der Schlinge über ihrem Nachthemd. Sie versuchte, sich einhändig zu kämmen, und wegen der Zotteln, die sie dabei verursachte, stand es mit ihrer Laune nicht zum Besten.
»Es tut weh«, quengelte sie.
»Was? Dein Arm oder die Haare?«
»Beides!« Hilfe suchend streckte Arcangela ihr den Kamm entgegen.
Seufzend nahm Celestina ihn entgegen und kämmte die Knoten aus Arcangelas Locken, obwohl sie ihr vorher schon bis zum Überdruss das Haar ausgebürstet hatte. Sie wusste, dass es hier nicht um das Kämmen an sich ging, sondern um ein Beruhigungsritual. Arcangela war völlig durcheinander. Sie hatte im Laufe des Tages sowohl von Vitale als auch von Galeazzo einen Brief bekommen, seitdem war die Welt nicht mehr in Ordnung. Vitale hatte kurz entschlossen die Wohnung angemietet, koste es was es wolle , und egal was Mutter dazu sagt , so seine Worte. Und Galeazzo hatte vor den Toren der Stadt unverhofft irgendeine neu erbaute Hütte aufgetrieben, mit Kamin und festem Dach , die ab der kommenden Woche benutzbar sein sollte.
»Ich muss mich entscheiden«, sagte sie verzweifelt. »Was soll ich nur tun? Ich liebe sie doch beide so sehr!«
Celestina hatte keinen Kopf für die Probleme ihrer Stiefschwester. Ihre eigenen Sorgen waren schlimm genug. Immer wieder rekapitulierte sie Satz für Satz die Unterhaltung mit Hieronimo Caliari, doch sie fand nichts, aus dem man hätte herleiten können, dass sie dem Gespräch eine bestimmte Richtung gegeben hätte. Jedenfalls keine, die ihn berechtigt hätte, am Ende zu sagen, dass sie eine ganz besondere Frau sei, ganz zu schweigen von seiner Bitte um ein Wiedersehen. Und das alles ausgerechnet wenige Augenblicke, bevor Timoteo auf der Bildfläche erschien. Seine fassungslosen und anklagenden Blicke schienen ihr immer noch auf der Haut zu brennen. Er hatte sie angesehen, als hätte sie ihn verraten. Und sie hatte sich gefühlt wie eine Verräterin. Kein Wunder, dass sie einfach davongerannt war.
Ein leiser Knall tönte vom Fenster her. Etwas war gegen die vorgezogenen Läden geprallt. Gleich darauf wieder, dann ein drittes Mal.
»Da wirft jemand von unten Steine ans Fenster«, sagte Arcangela überflüssigerweise. »Willst du nicht nachschauen? Es könnte Galeazzo sein. Vielleicht will er mich sehen.« Ihre Stimme klang hoffnungsvoll.
Celestinas
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