Das Mädchen aus Mantua
her und holt mich ab, und dann ist es vorbei mit dem Studium. Und auch mit uns beiden.«
»Dann hast du eben noch nicht genug nachgedacht.«
Sie musterte ihn mit milder Neugier. »Nicht?«
Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.«
»Und was bringt dich auf den Gedanken, es könnte eine Lösung geben, die mir noch nicht eingefallen ist?«
»Weil mir eine eingefallen ist.«
»Und welche wäre das?«
»Zu gegebener Zeit werde ich dir davon erzählen.«
Sie betrachtete ihn perplex. »Warum nicht jetzt?«
»Weil es nicht die passende Zeit dafür ist.«
Ungläubig nahm sie seine Antwort zur Kenntnis. Sie setzte zu einer weiteren Frage an, doch er hatte bereits den Weg zur Treppe eingeschlagen. »Komm schon«, sagte er über die Schulter. »Als Nächstes wird der Hüftknochen demonstriert, das will ich auf keinen Fall verpassen.«
Celestina verfolgte den Rest der Sektion voller Spannung. Nachdem der größte Teil der Zuschauer das Teatro Anatomico verlassen hatte, war genügend Platz für die Anatomiestudenten. Sie und Timoteo hatten sich einen Platz im ersten Rang gesucht, von wo aus sie direkt von vorn auf den Sektionstisch blicken konnten. Nach der Präparation der inneren Organe von Brust- und Bauchhöhle kamen Gefäße und Nervenbahnen an die Reihe, danach die Knochen. Wie vorher angekündigt, wurde ein Hüftgelenk vollständig freipräpariert. Celestina warf einen verstohlenen Blick auf Timoteo, der sich kein Detail entgehen ließ und mit großer Aufmerksamkeit jeden Arbeitsschritt verfolgte. Ja, er würde ein guter Arzt werden, ein sehr guter sogar, davon war sie überzeugt. Er hatte ihr bei ihrem Treffen in der Hütte von dem Jungen erzählt, dem er das Schultergelenk eingerichtet hatte, und er hatte zum ersten Mal auch über seinen Vater gesprochen, dessen körperliche Behinderungen und die Schmerzen, die ihm das Leben mindestens ebenso sehr vergällten wie die bitteren Rachegelüste wegen des gewaltsamen Todes von Timoteos Mutter.
Aus jedem seiner Worte hatte Celestina das Mitgefühl herausgehört, so wie auch die Ohnmacht, weil er nicht mehr für seinen Vater tun konnte, obwohl er doch bald schon mit dem Medizinstudium fertig sein würde.
Timoteo machte sich Gedanken über den Menschen hinter der Krankheit, so wie es auch Jacopo getan hatte. Nur ein mitfühlender Arzt kann ein guter Arzt sein, hatte Jacopo einmal gesagt. Seine Sanftheit, seine Güte und sein Verständnis dessen, was die Menschen neben ihren körperlichen Gebrechen leiden ließ, hatten ihn zu so einem Arzt gemacht.
Ach, Jacopo … Celestina spürte, wie ihr Inneres sich schmerzhaft zusammenzog. Sie vermisste ihn immer noch so sehr. Die Liebe zu ihm würde sie für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen, dieser Zusammenhalt war so stark gewesen, dass er sich nicht vergessen ließ. Doch die schlimme Lücke, die sein Tod hinterlassen hatte, schmerzte nicht mehr so sehr. Die Zeit heilte alle Wunden, auch wenn Celestina noch vor einigen Monaten geglaubt hatte, dies sei nur ein belangloser Spruch, um die Trauernden zu besänftigen und zu trösten.
Die neue Liebe, die mit einem Mal ihr Leben ausfüllte, konnte sie Jacopo nicht vergessen machen, aber sie gab ihrem Dasein einen Sinn. Und ja, sie machte sie glücklich. In manchen Augenblicken schäumte ihr Herz förmlich davon über. Gerade jetzt, da sie neben ihm stand und ihn betrachtete, während er gebannt auf diesen blutigen Hüftknochen starrte, empfand sie eine so große Zärtlichkeit für ihn, dass ihr eine wesentliche Erkenntnis kam: Sie konnte ihn nicht mehr aufgeben. Er hatte recht. Sie hatte nicht lange und nicht gründlich genug nachgedacht. Egal, was geschah und wie viel die von ihm erdachte Lösung taugte – notfalls würde sie eine andere finden.
Schließlich endete die Vorführung für diesen Tag. Am nächsten Morgen würden weitere Teile der Leiche skelettiert werden, vor allem die Stellen, wo sich erst vor Kurzem verheilte Brüche befanden. Timoteo konnte es kaum erwarten, sie aus der Nähe zu betrachten.
Gianbattista und sein Gehilfe verfrachteten den Toten wieder in den benachbarten Vorbereitungs- und Aufbewahrungsraum, desgleichen die Schalen mit den herausgenommenen Organen. William folgte ihnen auf dem Fuße, um sich Herz und Lungen vorzunehmen. Celestina und Timoteo schlossen sich ihm an, was der Prosektor mit grämlicher Miene zur Kenntnis nahm. Er mochte es nicht, wenn die Studenten sich in seinem Hoheitsgebiet tummelten, auch wenn sie es mit
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