Das Mädchen aus Mantua
wegen Timoteo ab. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie, eingehakt bei seinem Bruder, durch Padua spaziert war, während dieser ihr mit jedem Schritt seine wachsende Zuneigung zeigte?
Sie fühlte sich elend und hätte den gestrigen Tag am liebsten aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Und nicht nur dort, sondern überhaupt und ganz und gar. Hätte sie doch nur nicht auf Arcangela gehört!
Ihre Reue kam freilich zu spät. Hieronimo hatte bereits angekündigt, am folgenden Sonntag wieder im Hause der Bertolucci vorzusprechen. Falls das Wetter für einen Spaziergang zu schlecht sei, wolle er einen Ausflug in der Kutsche unternehmen. Nötigenfalls mit Arcangela als Anstandsdame. Sie hätte widersprechen sollen, doch sie hatte nicht gewusst, wie. Was hätte sie auch sagen sollen? Lass mich in Ruhe, ich liebe deinen Bruder?
Die Universitätsglocke läutete zum Ende der Vorlesung, und Zirelli klemmte sich das Buch unter den Arm und verließ den Katheder. Galeazzo gesellte sich zu William und einigen anderen Kommilitonen, denn er bemerkte, dass Celestina in Gedanken versunken war und daher höchst einsilbig auf seine Versuche reagierte, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Sie zog sich derweil auf den Säulengang im ersten Obergeschoss zurück und ging dort unruhig auf und ab. Plötzlich wünschte sie sich, ihre Mutter möge endlich in Padua eintreffen. Sie würde wie ein Wirbelwind durch das Haus der Bertolucci fegen, alle herumscheuchen, die ihren Weg kreuzten, an jedermann barsche Befehle ausgeben und darauf bestehen, dass man ihr gehorchte.
Arcangela und sie würden ihre Kisten und Reisesäcke packen müssen, ob sie es nun wollten oder nicht, und zwei Tage später wären sie in Venedig, in ihrem Elternhaus, in der Kammer, in der sie schon als Kind geschlafen und geträumt hatte, nur zwei Stock über dem Canal Grande, in einem in die Jahre gekommenen, aber noch durchaus ansehnlichen Patrizierhaus, das ihre Mutter von ihrem Großvater geerbt hatte, einem hoch geachteten Ratsherrn. Ihr Stiefvater würde sie freundlich behandeln, so wie er es schon früher getan hatte, mit einer gewissen latenten Verzweiflung, die sich besonders dann zeigte, wenn er mit seiner leiblichen Tochter Arcangela konfrontiert wurde, die er selbst mit in diese Ehe gebracht hatte. Die beiden jungen Frauen waren eine schwere Prüfung für ihn, störten sie doch das ruhige Gleichmaß und die immerwährende Bequemlichkeit seines Lebens mit Celestinas Mutter, doch er ließ es sich aus Höflichkeit nicht anmerken. Oder versuchte es zumindest, wenngleich leider vergeblich. Er würde danach trachten, den »Eintritt in ein hübsches Frauenkloster« ins Gespräch zu bringen, so wie er es schon häufiger getan hatte, mit ebendiesen Worten. Und sie und Arcangela würden wie immer dagegen protestieren und damit den armen Mann zur Verzweiflung bringen, sowie auch die Geduld der Mutter auf die Probe stellen, die für alle nur das Beste wollte – vornehmlich aber für sich selbst und den von ihr über alles geliebten Gatten.
Unweigerlich würde es zu Auseinandersetzungen kommen, und Celestina fragte sich bedrückt, wo das alles enden würde. Warum hatte Jacopo auch sterben müssen? Warum konnte Timoteo nicht zehn Jahre älter und ein etablierter Arzt sein, der Befehlsgewalt seines Vaters entzogen? Warum konnte sie selbst kein Mann sein, berechtigt und in der Lage, dieses Studium bis zum Ende durchzuführen, sich promovieren zu lassen und fortan den ehrenvollen Titel eines Medicus zu führen?
Wut erfasste sie, und mit einem Mal wünschte sie sich, nie hierhergekommen zu sein. In Mantua war das Leben nicht schlecht gewesen, ganz und gar nicht. Sie und Arcangela hatten zwar kaum genug zu beißen gehabt nach Jacopos Tod, und die Behausung, in die sie einige Monate nach seinem Hinscheiden aufgrund Geldmangels hatten ziehen müssen, war eher ein Rattenloch gewesen als eine ordentliche Wohnung, doch irgendwie hätten sie sich schon über Wasser gehalten. Zumindest waren sie für sich selbst verantwortlich gewesen und hatten sich niemandes Befehl beugen müssen. Wäre Arcangela nicht so leichtsinnig gewesen, sich mit einem verheirateten Mann einzulassen …
Resigniert schloss Celestina die Augen. Wäre, wäre, hätte, hätte – es war müßig, mit der Vergangenheit zu hadern, ändern konnte man sie ja doch nicht.
Ein heftiger Rempler von der Seite riss sie aus ihrer Versunkenheit. Erschrocken rieb sie sich die schmerzende Schulter. Baldo stand neben ihr und grinste
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