Das Mädchen aus Mantua
verbargen sich jahrhundertealte Mauern, die man nicht eingerissen, sondern nur neu verkleidet hatte, was Celestina als symbolhaft empfand. So wie Galenus einst das unverzichtbare Wissen der ärztlichen Kunst in römischer Zeit begründet und Vesalius dieses vor weniger als einem Menschenalter um eigene Entdeckungen erweitert und vervollständigt hatte, so vereinte dieses Gebäude das Beste aus alter und neuer Zeit.
Celestina atmete tief durch. Die Welt um sie herum schien stehen geblieben zu sein. Sie sah nur noch die Universität.
Galeazzo schnüffelte an seinen Händen. »Bah, das ist widerlich!«
»Vor allem, wenn du nicht aufhörst, daran zu riechen«, sagte Timoteo.
»Man muss sich daran gewöhnen«, erklärte William.
Zu dritt gingen sie durch den Innenhof der Universität in Richtung Hauptportal. Die für den Morgen angesetzte Sektion war abgebrochen worden, weil jemand mit einem amtlichen Schreiben aufgetaucht war, der eine weitere Verstümmelung der Leiche untersagte. Der ohnehin seltene Glücksfall eines verfügbaren Körpers für die Anatomie war in Wahrheit nur Folge eines Justizirrtums gewesen. Es hatten sich Angehörige eingefunden, die eine behördliche Weisung erwirkt hatten. Der Leichnam war zwar wie die meisten anderen auch vom Henker und seinen Gehilfen angeliefert worden, doch nach der Hinrichtung hatte sich herausgestellt, dass man den Falschen aufgeknüpft hatte, als Folge eines Meineides durch einen gehässigen Zeugen. Den man wiederum sofort ergriffen und eingekerkert hatte, wobei diese Wendung für den fälschlich Gehenkten natürlich zu spät kam, zumal dies schon der vierte Tag der Sektion und der Körper nur noch in Teilen vorhanden war. Immerhin hatte man sich beeilt, ihm nachträglich das ihm zustehende christliche Begräbnis zu bewilligen. Damit deswegen in der Anatomie keine Unterrichtsstunden ausfielen, war Gianbattista, Prosektor und Adlatus des Professors, umgehend beauftragt worden, einen Hundekadaver als Ersatz zu beschaffen. Von den Medizinstudenten, die Gianbattistas Weisungen unterstanden, hatte es den unglücklichen Galeazzo getroffen, den Prosektor zum Hundefänger zu begleiten. Der Hundefänger hatte wie üblich einen Kadaver vorrätig gehabt – die Anatomie brauchte deren stets mehrere, als Vergleichsobjekte, die parallel zu menschlichen Leichnamen seziert und demonstriert wurden –, doch war dieser bereits in so erbärmlich verwestem Zustand gewesen, dass Professor Fabrizio ihn sofort verärgert zurückgewiesen hatte.
Gianbattista hatte prompt Galeazzo die Schuld in die Schuhe geschoben, weshalb diesem folgerichtig als Nächstes die Aufgabe zufiel, den Kadaver wieder zu entfernen. Seitdem sah er reichlich grün im Gesicht aus.
»Ich verstehe nicht, wie ihr bei diesem Gestank Hunger haben könnt!«, klagte er.
»Wir mussten ja den toten Köter nicht anfassen und zum Karren schleppen«, meinte Timoteo pragmatisch.
»Sieh das Gute daran«, sagte William. »Der Gehilfe des Pedells hat den Karren für dich weggeschafft. Und wir haben eine unverhoffte Pause und können uns die Beine vertreten.«
»Ich muss mir die Hände waschen!«
»Kauf dir auf dem Markt einen Becher Schnaps und reib die Hände damit ab«, riet ihm William. »Das vertreibt den Gestank und bindet üble Säfte.«
Der Gehilfe des Pedells kreuzte ihren Weg und blieb stehen. »Der Karren ist weg«, teilte er Galeazzo mit. Der zog murrend ein paar Münzen aus der Tasche, die der Gehilfe des Pedells ungerührt einsackte und seiner Wege ging. Er bezog den Großteil seines Einkommens aus studentischen Beiträgen, und da diese kaum reichten, die nötigsten Auslagen zu decken, nutzte er die unterschiedlichsten Gelegenheiten, sein Salär aufzubessern.
Die jungen Männer durchschritten das Portal und traten in den Sonnenschein hinaus.
»Seht nur«, sagte Galeazzo überrascht.
»Ich sehe sie«, erwiderte Timoteo, nicht minder verblüfft. Er erkannte sie sofort wieder. »Das Mädchen aus Mantua«, murmelte er.
Sie stand mitten auf dem Platz vor der Universität und starrte ihnen entgegen, als hätte sie eine Erscheinung. Dann merkte Timoteo, dass sie nicht ihn oder seine Freunde anblickte, sondern dass sie gleichsam durch sie hindurchschaute, auf das offene Portal.
An der Ecke scheute ein Reitpferd. Es stieg mit den Vorderbeinen in die Luft und wieherte durchdringend.
Der Pferdeknecht taumelte zurück, die Hufe hatten ihn an der Schulter erwischt. Er ließ die Zügel fahren, und das Pferd ging durch. Es
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