Das Mädchen, das den Himmel berührte: Roman (German Edition)
er.
Paolo zuckte mit keinem Muskel. Er verharrte regungslos, beinahe wie ein Toter, bis Scarabello mit einem lärmenden Gefolge von vier bewaffneten Männern auftauchte.
»Ach, da bist du ja«, sagte Scarabello, als er Mercurio entdeckte. »Und wo ist der Einäugige?«
»Ich muss mit dir reden«, sagte Mercurio.
Scarabellos Gesicht war von Lanzafames Fäusten gezeichnet: Eine Lippe war bläulich angelaufen und geschwollen, ein Auge blau unterlaufen und eine Braue aufgeplatzt, aus der Nase quoll eine gelbliche Flüssigkeit, und wo die Haut nicht verfärbt oder aufgeschürft war, war sie leichenblass.
Mercurio konnte sich einer gewissen Befriedigung nicht erwehren, als er ihn so zugerichtet sah. Er umklammerte das Messer in seiner Tasche noch fester.
»Du machst einen Haufen Geld, Junge«, sagte Scarabello und schob sich einen Finger in den Mund, um einen Backenzahn zu untersuchen, der sich anscheinend gelockert hatte.
»Nein, du machst einen Haufen Geld«, erwiderte Mercurio harsch. »Ich verdiene es mir.«
Scarabello lachte leise. »Ich war gestern bei dem Juden. Das Fest im Hause Venier hat dir siebenundzwanzig Tron und acht Silberstücke eingebracht. Nicht übel. Mein Anteil sind neun Tron und drei Silberstücke. Der Rest gehört dir.« Er schleuderte Mercurio ein Säckchen vor die Füße, als würde er einem Hund einen Knochen zuwerfen. »Es ist alles hier drin. Aber jetzt verschwinde, denn ich habe zu tun.«
»Sonst?«
»Sonst was, Winzling?« Scarabellos Stimme wurde hart.
»Was tust du, wenn ich nicht verschwinde? Schneidest du mir den Kopf ab?«
Scarabello sah ihn aufmerksam an. Dann trat er so nah an Mercurio heran, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten.
Mercurio konnte Scarabellos Atem spüren. Er roch nach Blut und Alkohol.
»Wenn du es darauf anlegst, ja«, sagte Scarabello leise.
Mercurios Hand umkrampfte das Messer. Er musste es nur hervorziehen und ihm in die Brust bohren.
»Es tut mir leid um Donnola«, sagte Scarabello. Für einen Moment wich die gefühlskalte Maske einem mitfühlenden Gesichtsausdruck. »Aber es musste sein.«
Mercurio wurde bewusst, dass er nicht die Kraft hatte, Scarabello zu erstechen. Und er würde sie auch niemals haben. Er kam sich vor wie ein Versager und ließ den Kopf hängen.
Scarabello legte ihm eine Hand auf die Schulter und ließ sie dann bis zum Nacken gleiten, wo er fest zupackte. Seine Hand war warm.
Mercurio empfand die Berührung fast als angenehm. »Warum …?«, fragte er leise und überließ sich Scarabellos Griff.
»Das kannst du nicht verstehen«, sagte Scarabello ebenfalls leise.
Mercurio hob den Kopf und sah ihn eindringlich an.
»Das kannst du nicht verstehen«, wiederholte Scarabello.
Mercurio begann leise zu weinen, die Tränen liefen ihm einfach wie von selbst die Wangen hinab. All seine Wut schmolz dahin wie ein Stück Eis in der Sonne.
Scarabello zog ihn mit der Hand am Nacken zu sich und versetzte ihm mit der anderen einen leichten Klaps auf die Backe. Dann wischte er ihm beinahe zärtlich die Tränen ab.
Mercurio zog die Hand hervor, die immer noch das Messer umklammert hielt. Sein Arm zitterte vor Anspannung.
»Achtung, er hat ein Messer!«, schrie einer der Männer und wollte schon losstürmen, um seinen Anführer zu verteidigen.
Doch Scarabello hielt ihn mit erhobener Hand auf und ließ dabei Mercurio nicht aus den Augen. »Er wollte es gerade fortwerfen«, sagte er. Er sah Mercurio immer noch an und ließ die Hand weiter locker in seinem Nacken liegen.
Mercurios Finger öffnete sich, und das Messer fiel zu Boden.
Scarabello nickte und zog Mercurio noch einmal an seine Brust. Dann schob er ihn von sich fort und bückte sich. Er hob den Beutel mit Saravals Geld auf, den er ihm vor die Füße geworfen hatte, und drückte ihn ihm in die Hand, die eben noch das Messer gehalten hatte. »Geh nach Hause, Junge«, sagte er.
Mercurio wich einen Schritt zurück. Er fühlte sich schwach und ausgebrannt.
»Noch eine Sache«, sagte Scarabello. »Das Problem mit dem Doktor ist damit nicht aus der Welt. Es wird sich bald erledigt haben, aber richte ihm aus, dass bis dahin keiner von ihnen sicher ist.«
Mercurio erstarrte. Er spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er musste sofort an Giuditta denken. »Wen meinst du damit?«
»Niemand Besonderen«, sagte Scarabello. »Alle.«
Mercurio sah zu dem Messer am Boden.
Mit einem Fußtritt schob Scarabello es zu seinen Männern hinüber. »Du solltest den Doktor besser
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