Das Mädchen, das nicht weinen durfte
zwölf Jahren auch die Einzige war, die ihn verstand. Wie geht es jetzt weiter? Wo soll ich meine Familie unterbringen? Wie komme ich schnellstmöglich an Geld für etwas zu essen? All diese Fragen schossen ihm durch den Kopf. Das, was ihn beruhigte, war ein Konto mit seinen gesamten Ersparnissen bei einer Bank in England. Das sollte unseren Start erleichtern und unsere Zukunft sichern - dachte er.
Er kannte auch eine somalische Familie, die mit uns über mehrere Ecken verwandt war und in Kairo lebte. Aber er wusste weder, ob sie noch lebten, noch, wo sie genau wohnten oder wie ihre Telefonnummer war. Er kannte nur den Namen und wusste,
dass es im Stadtzentrum sein musste. Also fuhren wir dorthin in der Hoffnung, in ihnen einen ersten Kontakt zu finden. Als wir aus dem Bus stiegen, liefen wir in irgendeine Richtung, einfach geradeaus. Noch immer sagte keiner etwas. Was hätten wir auch sagen sollen? Alles lag in Gottes Hand.
Irgendwann liefen wir an einem kleinwüchsigen Ägypter in einem schwarzen Anzug mit weißem Hemd und abgetragenen Lackschuhen vorbei. Die oberen Knöpfe seines Hemdes waren geöffnet, sodass man seine starke Behaarung sehen konnte, und sein Bauch war leicht vorgewölbt. Er war Goldhändler, stand gerade vor seinem Laden und blickte in unsere Richtung. Papa schaute ins Schaufenster, wo Uhren, Schmuck und Gold ausgelegt waren. »Hast du die kleine Tüte bei dir, die mit dem Schmuck?« Mama kramte in ihrer Tasche, wo unsere Pässe und eine kleine Plastiktüte waren, in die sie alle Wertsachen gestopft hatte. Der spitze Schmuck hatte die Tüte schon völlig durchlöchert. Papa nahm sie und ging mit ihr in den Laden. Der Verkäufer folgte ihm eilig, als wittere er ein gutes Geschäft. Es verging eine Weile, und durchs Schaufenster sah ich, dass der Verkäufer auf einem Hocker hinter seinem Tresen saß und Papa davor. Mit großen Augen und offenem Mund lauschte der Mann Papas Worten. Dann schaute er sich wieder das nächste Schmuckstück an, das auf seinem Glastisch lag. Irgendwann kam mein Vater raus und sah erleichtert aus. Auch der Verkäufer nickte uns grinsend von seinem Hocker aus zu.
»Wir haben eine Wohnung!« Wir blickten Papa verwirrt an. »Ich habe ihm gerade unser Gold verkauft. Er hat mir erzählt, dass er im Stockwerk über seiner eigenen Wohnung eine Wohnung leer stehen hat. Wir könnten sofort einziehen.« Der Verkäufer nickte uns immer eifriger zu. Papa hatte ihm von unserer Flucht erzählt und dass wir eine Bleibe brauchten. Jetzt kam der Ägypter raus aus seinem Laden und lächelte wie jemand, der weiß, dass er gerade etwas Gutes getan hat. Mit dem Großteil
des Geldes, das Papa für das Gold bekommen hatte, zahlte er die Miete für ein ganzes Jahr vorsorglich im Voraus. Unsere Ankunft in Ägypten war ein Glückstreffer, das Schicksal hatte es gut mit uns gemeint, endlich wieder mal. Sogar bei Mama wich die Sorge, obwohl man auch ihr die Strapazen ansehen konnte. Woher sollten wir auch ahnen, dass unser Kampf ums Überleben noch längst nicht beendet war!
Die neue Wohnung lag im 17. Stock, und wir mussten den Aufzug benutzen.
»Ich hoffe, er funktioniert. Normalerweise bleibt er mehrmals am Tag stecken«, berichtete der Ägypter. »Neulich waren Leute stundenlang hier drin gefangen, weil er einfach nicht mehr fuhr.« Dann lachte er laut auf. In diesem Moment hätte er mir so ziemlich alles erzählen können, ich war durch nichts mehr zu erschüttern. Ich war so glücklich, dass wir alle noch am Leben waren, jeder von uns hätte bereits tot sein können, so wie viele unserer Verwandten und Landsleute. Und der Fahrstuhl funktionierte, der nette Ägypter schloss uns die Wohnung auf und breitete seine Arme aus.
»Willkommen!« Er trat als Erster ein, wir folgten ihm ins Wohnzimmer. Es war spärlich eingerichtet, nur mit einem dunklen Teppich, auf dem ein schwarzer Esstisch und eine kleine Couch standen. Eine schwache Glühbirne erhellte den Raum. Der Ägypter guckte uns erwartungsfroh an und genoss offenbar seine Rolle als Wohltäter. Papa klatschte in die Hände und umarmte ihn: »Danke! Ich danke dir so sehr!« Der Ägypter klopfte ihm auf die Schulter: »Oh, gerne, gerne! Wenn ihr noch irgendwas braucht, wir wohnen genau ein Stockwerk unter euch.«
Unser Leben in Kairo
Am nächsten Tag machte mein Vater erste Pläne. Er nahm sein kleines Adressbuch und blätterte darin herum. Er wollte ein paar Sachen beginnen, die unsere Situation verbessern sollten. Da waren die
Weitere Kostenlose Bücher