Das Mädchen, die goldene Uhr und der ganze Rest
Mädchen hätte trotz ihrer moralischen Ansichten so viel Anstand besitzen können, das Licht wieder abzudrehen. Er fragte sich, ob man vor Durst umkommen könne, während einen die Übelkeit quält. Gleich würde er aufstehen und das Licht abdrehen, gleich, nur noch ein paar Augenblicke.
Hinter den geschlossenen Jalousien schimmerte das Tageslicht. Das Licht im Zimmer war abgeschaltet. Er stand auf und tappte ins Bad. Er sah auf die Uhr. Sie war stehengeblieben. Er fühlte sich schwach, aber ausgeruht, und er hatte Durst und einen richtigen Heißhunger. Aus dem Spiegel blickte ihm sein schüchternes, albernes Lächeln entgegen, das hinter rötlichbraunen Bartstoppeln verschwamm. Hatte er das aufgebrachte Mädchen nur geträumt? Und Montevideo? Und die Beerdigung? Charla hatte er bestimmt nicht geträumt, da war er ganz sicher. Seine Erbschaft fiel ihm ein, und sofort war er verärgert und niedergeschlagen. Aber er fühlte sich zu wohl, um lange niedergeschlagen zu bleiben.
Nach einer ausgiebigen Dusche rasierte er sich mit dem neuen Rasierapparat, putzte sich mit einer ungewohnten, nach Minze schmeckenden Zahnpaste die Zähne und ging - ein großes Handtuch um die Hüften geschlungen - wieder in sein Schlafzimmer. Jemand hatte die Jalousien hochgezogen, und goldener Sonnenschein strömte herein. Auf dem Nachttisch stand ein großes Glas mit eiskaltem Orangensaft und daneben lag eine mit violetter Tinte in kühner und doch weiblicher Handschrift verfaßte Nachricht. Auf das schwere, blaugraue Briefpapier waren die Buchstaben C.M.M.O'R. geprägt. Die Initialen sahen wie eine ungewöhnliche Abkürzung von Commodore aus, und er wußte, daß das aufgebrachte Mädchen kein Traum gewesen war. Charla Maria Markoirgendwas O'Rourke.
Kirby, Liebling. Ich habe die Dusche gehört und bin in Aktion getreten. Sie müssen vollkommen fertig gewesen sein, Sie Ärmster. Dienstbare Geister sind auf dem Weg und bringen so etwas wie ein Notstandspaket. Ihre Kleider wurden fortgeschafft; den Tascheninhalt finden Sie auf dem Tisch. Die Pakete liegen auf dem Stuhl. Bevor gestern abend unten die Läden schlossen, habe ich nur nach Gefühl eingekauft. Wenn die Bestie satt und angekleidet ist, finden Sie mich auf der Sonnenterrasse. Unnötig zu fragen, ob Sie gut geschlafen haben. Guten Morgen, Liebling. Ihre Charla.
Er blickte aus den Fenstern. Sie gingen nach Osten. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Die Tür zum Salon der Suite war angelehnt. Er griff nach dem Telefon und fragte nach der Uhrzeit. »Zwölf Minuten nach zehn an einem strahlenden Sonntag vormittag in Florida«, sagte das Mädchen keck.
Er rechnete nach: siebenundzwanzig Stunden in der Klappe. Er trat zu dem Stuhl, auf dem die Pakete aufgestapelt waren. Weiße Boxershorts aus Nylontrikot, Taillenweite achtundsiebzig, das stimmte. Espandrillos, Größe L. Bequem. Eine graue Dacron-Hose mit Stulpen. In der Taille saß sie perfekt. Im Schritt war sie vielleicht etwas kürzer als er sie gewöhnlich trug, aber es ging. Ein kurzärmeliges Sporthemd mit Button-down Kragen. Größe und Schnitt waren in Ordnung, aber die Farben des leichten Seidenhemdes! Schmale Längsstreifen in Grau, Hellblau, Korallenrot und Hellgelb, die durch schwarze Linien voneinander getrennt waren. Als er das Hemd zuknöpfte, klopfte es an der Tür zum Korridor. Zwei flinke uniformierte Kellner schoben mit höflichem Lächeln einen großen, klimpernden Wagen herein und deckten auf schneeweißem Leinen sein reichliches Frühstück, das in Terrinen warmgehalten wurde. Sie brachten ihm auch eine Sonntagszeitung. Er versuchte, ihnen nicht zu zeigen, daß ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Alles wurde erledigt, Sir. Danke, Sir. Wenn Sie noch einen Wunsch haben, Sir. Hoffentlich verschwanden sie, bevor er mit den Händen nach den Eiern schnappte.
»Sollen wir den Champagner jetzt öffnen, Sir?«
»Den was? «
»Den Champagner, Sir.«
»Natürlich, den Champagner. Lassen Sie ihn noch.«
Erst als nur noch eine zweite Tasse Kaffee übrig war, konnte er zumindest so tun, als interessiere ihn die Zeitung. Und auch dann konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Zu viele Rätsel waren ungeklärt. Er drehte sich um und hob die Champagnerflasche aus dem Eiskübel. Die Flasche war nicht etwa halbvoll; es war eine volle, elegante Flasche. Er umwickelte sie gerade mit einer frischen Serviette, als ihm das zweite Champagnerglas auf dem Tablett auffiel.
Wie groß muß der Wink sein, damit ich ihn verstehe,
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