Das Mädchen in den Wellen
Schwarz, was ihn aus der Menge heraushob. Seine stämmige Statur zeugte von einer Jugend auf dem Footballfeld.
»Sie scheinen ziemlich hingebungsvoll zu beten.«
»Es ist auch eine Art Religion.«
»Vielleicht sollten Sie den Vatikan um Mess-Ale bitten.«
»Gute Idee.« Er lachte. »Würde mir selber auch besser schmecken. Sie schicken mir grässlichen Wein.« Er musterte sie. »Sie sind Maires Nichte, stimmt’s? Die Familienähnlichkeit ist nicht zu übersehen. Wie kommen Sie hier zurecht?«
Nora nahm einen Schluck Ale. »Ganz gut.«
»Sie sind eine ausgezeichnete Schwimmerin, habe ich gehört.«
Was er wohl sonst noch gehört hatte? »Ich mag das Meer.«
»Hier ist es ganz besonders. Angeblich treffen vor Burke’s Island ungewöhnliche Strömungen aufeinander.«
»Ja. Und Sie?«
»Ich fühle mich an Land wohler, weil ich leicht seekrank werde. Verraten Sie das bitte niemandem, sonst verliere ich meine Glaubwürdigkeit.«
»Bei mir ist Ihr Geheimnis sicher aufgehoben.«
Da rief ihm ein Mann von der anderen Seite des Raums aus etwas zu.
»Will da jemand beichten?«, fragte Nora.
»Hoffentlich nur einen Drink spendieren.« Pfarrer Ray zwinkerte ihr zu. »Tja, dann kümmere ich mich mal um meine Schäfchen. Kommen Sie mich doch einmal in St. Mary’s besuchen. Die Tür steht Ihnen jederzeit offen.«
Alison eilte mit einem leeren Tablett herbei. Nora hatte ganz vergessen, dass sie hier kellnerte.
»Fleißiges Mädchen«, begrüßte Nora sie. Sie spielte mit dem Gedanken, ihr von dem verstörenden Brief zu erzählen, überlegte es sich dann jedoch anders.
»Wenn ich arbeite, bin ich weg von der Straße. Und mein Sparschwein hat auch was davon. Meine Reisekasse.«
»Wo soll’s hingehen?«
»Irgendwohin, wo die Sonne scheint – zum Beispiel nach Thailand oder Brasilien.«
»Hätte gute Lust, mich anzuschließen«, sagte Nora. »Ist Polly da? Wir wollten uns hier treffen.«
Alison schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Vielleicht hatte sie wieder eine Panne mit dem Wagen. Viel Glück hat sie nicht mit ihren Autos. Oder sie hat sich irgendwo verquatscht. Aber da ist ihr Vater Gerry.« Alison zeigte mit dem Kinn auf den rotgesichtigen Mann, der neben Nora Platz nahm. Dem Glanz in seinen Augen nach zu urteilen, hatte er schon einiges getrunken. »Er ist fast so gut wie sie.«
»Ich bin also nur zweite Wahl?«, fragte er. Gerry, der trotz seiner bestimmt achtzig Jahre und seiner Arthritis ziemlich rüstig wirkte, glitt von seinem Barhocker, packte Nora am Ellbogen und tanzte mit ihr durch die Menschenmenge zur Tür. Die anderen Gäste machten lachend und fröhlich klatschend Platz für sie. Nora ahnte, dass das nicht Gerrys erster Auftritt war. »Ist gut fürs Herz«, erklärte er, als er sie, höflich die Kappe vor ihr ziehend, zu ihrem Hocker zurückgeleitete. »Danke für das Tänzchen.«
»Gern geschehen.«
Er beugte sich zu ihr hinüber. »Im Übrigen suche ich heute noch jemanden fürs Bett.« Das war nicht unbedingt ein unsittlicher Antrag; er verkündete nur augenzwinkernd seine generellen Absichten.
»Na, dann viel Glück.« Nora nahm, ein Lachen unterdrückend, einen Schluck von ihrem Ale. In nüchternem Zustand hätte er vermutlich niemals solche Dinge gesagt, dachte sie.
Gerry gab eine Soloeinlage und kehrte kurze Zeit später zur Theke zurück. »Bin ganz schön außer Atem«, keuchte er. »Längst nicht mehr so fit wie früher.«
»Tanzen strengt an.«
»Das Alter auch. Leider.« Er seufzte.
»Sie sehen keinen Tag älter aus als …«
»Hundert?«, fragte er schmunzelnd. »Ist nicht mehr lange hin. Letzten Januar bin ich fünfundneunzig geworden.«
»Nein! Ist das die Möglichkeit?«
»Doch. Tja, wie die Zeit vergeht. Ich habe im Ersten Weltkrieg gekämpft, in Frankreich.« Er stieß sie spielerisch in die Rippen.
»Sie flirten gern, was?«
»Verraten Sie das nicht meiner Frau.«
»Ist sie auch hier?«
»Himmel, nein. Sie ist oben in St. Mary’s.«
»Zum Beten?«
»Auf dem Friedhof. Gott hab sie selig.«
»Tut mir leid. Ich wusste nicht …«
»Ist lange her. Aber sie fehlt mir immer noch.« Sein Blick trübte sich, doch dann musterte er Nora intensiver. »Sie erinnern mich an jemanden.«
»Ich habe ein Allerweltsgesicht.«
Er schnippte mit den Fingern. »Das McGann-Mädchen. Tolle Frau. Maeve.«
»Meine Mutter.«
»Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Das höre ich nicht zum ersten Mal. Haben Sie sie gekannt?«
»Wir haben sie alle gekannt und
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