Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen in den Wellen

Das Mädchen in den Wellen

Titel: Das Mädchen in den Wellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Barbieri
Vom Netzwerk:
die Kneipe mit zu vielen Erinnerungen verbunden. Sie hat den Verlust nach wie vor nicht verkraftet. Ein Teil von ihr hofft wahrscheinlich immer noch, dass er eines Abends zurückkommt. Manche Dinge überwindet man einfach nicht, egal wie viel Zeit vergeht.«
    Sie wandten sich schweigend dem Meer zu, dem großen Magier, dessen raffiniertester Trick darin bestand, Menschen verschwinden zu lassen.
    Als Polly weg war, öffnete Nora Miriams Brief.
    Wie geht es Dir? Ich muss oft an Dich denken. Willst Du wirklich den ganzen Sommer auf der Insel verbringen? Hier ist es merkwürdig, so ohne Dich. Im Haus ist es still. Ich fühle mich immer wieder versucht hinüberzugehen und zu klopfen, weil ich vergesse, dass Du nicht da bist. Du fehlst mir …
    Sie musste zurückschreiben, das war Nora klar, doch sie wusste nicht, was. Sie hatte schon einmal den Stift gezückt, ohne dass ihr etwas eingefallen wäre. Bald würde sie es wieder probieren. Sie würde Miriam Fragen über ihr Leben stellen, statt von ihrem eigenen zu erzählen. Vielleicht erleichterte das die Sache.
    Nora ging ins Haus und wandte sich dem anderen Brief zu. »McGann« stand in krummen Druckbuchstaben darauf. Doch Noras Name nach der Heirat lautete Cunningham. Merkwürdig.
    Nora riss den Umschlag auf und zog den einzelnen Bogen liniertes Papier heraus, der sich darin befand. »Warum bist Du hier?« stand darauf. Keine Unterschrift. Der Verfasser hatte so fest mit dem Stift aufgedrückt, dass das Papier an manchen Stellen durchlöchert war.
    Die Mädchen betraten das Haus, hungrig und mit geröteten Wangen.
    »Was ist das?«, fragte Ella. »Ein Brief von Dad?«
    »Nein.« Nora zerknüllte das Blatt Papier und warf es in den Abfall. »Werbung.«
    Nora fuhr in der Abenddämmerung in den Ort; die samtene Dunkelheit wurde nur von Sternen und der einen oder anderen Straßenlaterne erhellt. Cremefarbene Motten flatterten im Licht der Scheinwerfer. Als Nora Cis McClure’s erreichte, wo die Menschen ihre Probleme wegtranken, wegsangen und wegtanzten, waren die Parkplätze vor der Kneipe alle besetzt, so dass sie den Wagen in einer verlassenen Gasse abstellen musste. Selbst aus dieser Entfernung spürte sie das Dröhnen der Musik, als käme es aus dem Bauch der Erde. Nora ging an Scanlon’s vorbei, an der Bäckerei, am Schuster, samt und sonders geschlossen.
    Alle schienen sich in der Kneipe versammelt zu haben. Sämtliche Sitz- und Stehplätze waren besetzt. Blasse, sommersprossige Mädchen in kurzen Röcken und tief ausgeschnittenen Tops, junge Männer in Wollmützen und Flanellhemden, die Haare schwarz oder leuchtend rot, alte Männer in locker am Körper hängenden oder am Bauch spannenden Tweedsakkos mit Ellbogenschonern. Nora stellte sich in der Hoffnung, Polly Clennon zu erspähen, auf die Zehenspitzen, doch die redselige Postmeisterin war nirgends zu sehen. Stimmengemurmel erfüllte den Raum – Klatsch, Geselligkeit und Tratsch. Manche Gäste tanzten oder sangen, allein oder in kleinen Gruppen. In der Ecke stimmte eine Band ihre Instrumente.
    Als ein Platz an der Theke frei wurde, setzte Nora sich. Der Hocker war aus Holz und ziemlich unbequem. Cis schenkte die Drinks selbst ein – sein voller Name lautete vermutlich Cisco. Mit seinen breiten Schultern und seinem grobschlächtigen Gesicht wirkte er wie ein Fels in der Brandung. »Neu hier?«, fragte er Nora.
    »Ja, so neu wie ein frisch geprägter Penny«, antwortete sie.
    »Aber viel mehr wert, oder?«, sagte er. »Genau diesen Penny verlange ich von Ihnen.«
    »Ist das der übliche Preis?«
    »Spezialtarif für Neuankömmlinge.«
    Sie entschied sich für das Ale des Hauses, obwohl ihr Weißwein lieber gewesen wäre, weil sie das Gefühl hatte, dass Wein sich hier nicht schickte. Cis stellte ihr das Bier mit einem Nicken hin.
    Pfarrer Ray, der örtliche Geistliche, tippte ihr auf die Schulter. Nora hatte ihn schon mit seinem Motorrad über die Insel brettern gesehen oder eher gehört, ohne ihm je richtig begegnet zu sein. Es war ihr peinlich, nie die Kirche besucht zu haben (in den ersten Wochen hatte Maire sie noch gefragt, ob sie sie begleiten wolle, es dann aber aufgegeben), doch offensichtlich war er nicht der Typ, der anderen ein schlechtes Gewissen machte. »Na, kleiner Ausflug ins Gemeindeleben?«, erkundigte er sich.
    »Sonderlich fromm geht’s hier nicht zu«, bemerkte sie schmunzelnd.
    »McClure’s ist ihre zweite Kirche. Manche beten regelmäßiger hier als andere.« Er trug den Priesterkragen und

Weitere Kostenlose Bücher