Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
stark zu ihm, dass es ihr Angst machte.
»Vertrau mir, Madeleine«, sagte er leise zu ihr, als seine Lippen sich schließlich von den ihren lösten. »Du musst mir sagen, was geschehen ist. Ich will dir nur helfen!«
Helfen? Ein dunkler Schatten glitt über ihr Gesicht, und sie schüttelte den Kopf. »Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das, Nicolas«, sagte sie voller Verzweiflung.
»Woher willst du das wissen? Was ist so schwer für dich zu ertragen, Madeleine?«, fragte er.
Sie schwieg, während sie spürte, wie sehr sie sich im Grunde ihres Herzens danach sehnte, ihm alles zu erzählen.
Sie schaute ihm in die Augen. Sie vertraute ihm, wurde ihr klar, doch gleichzeitig hatte sie Angst, wie er reagieren würde, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Ein Geräusch war hinter ihnen zu hören. Sie zuckte zusammen. Ihr Blick glitt durch den Stall, doch es war niemand zu sehen. »Ich kann nicht hier darüber sprechen!«, sagte sie schließlich.
Er nickte zögernd. »Du hast recht!«, sagte er. »Das hier ist nicht der richtige Ort. Außerdem erwartet mich der Admiral im Schloss. Wir treffen uns heute Abend. Auf dem Wehrturm. Dort können wir ungestört reden.«
Sie nickte, und er strich ihr erneut durchs Haar, bevor sie beide den Stall verließen.
Auf dem Hof war es voll geworden. Eine Gruppe von Reitern war eingetroffen und auch einige Bauern, die mehrere Karren mit frisch geerntetem Obst und Gemüse mit sich führten. Als Madeleine mit Vardes an ihnen vorbeilief, stieß ein Mann, der gerade Körbe mit Äpfeln ablud, unversehens mit dem Rücken gegen sie.
Sie strauchelte, doch Vardes griff sie am Arm und hielt sie fest. Schützend legte er den Arm um sie. »Pass ein bisschen besser auf, wo du hingehst!«, wies er den Bauern barsch zurecht.
»Verzeihung!«, murmelte dieser und verbeugte sich devot. Obwohl er den alten löchrigen Filzhut auf seinem Kopf tief ins Gesicht gezogen hatte, konnte Madeleine sehen, wie er sie aus seinen dunklen Augen anstarrte. Die Spitze einer vernarbten Nase schaute unter seiner Hutkrempe hervor, und sie hatte plötzlich den Eindruck, dass sie sein Gesicht schon einmal gesehen hatte, doch dann drehte er sich schon wieder um.
Sie ging mit Vardes weiter. »Seltsam, er kam mir irgendwie bekannt vor«, sagte sie.
»Der Bauer? Sie kommen oft aus dem Umland, um einen Teil ihrer Ernten zu verkaufen. Vielleicht hast du ihn in den letzten Tagen hier schon einmal gesehen«, meinte er.
Madeleine nickte. Wahrscheinlich hatte Nicolas recht.
Sie hatten die Halle des Schlosses betreten, und er war vor ihr stehen geblieben.
»Wirst du dich heute Abend mit mir treffen? … Oder wirst du wieder die Flucht ergreifen?«, fragte er, und sie konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass er damit nicht nur ihr Gespräch meinte, das im Stall unterbrochen worden war.
Er hatte seine Hände um ihre Taille gelegt, und als er sie ein Stück zu sich zog, schlug ihr Herz erneut schneller.
»Nein, ich werde da sein«, versprach sie.
Er beugte sich etwas zu ihr und berührte mit dem Finger zart ihre Lippen. »Ich habe viel an dich gedacht, als ich weg war, Madeleine«, sagte er leise, bevor er sie auch schon wieder losließ, sich umdrehte und in seinem ruhigen Gang durch die Halle zu den Kabinettsräumen entschwand.
59
W ährend des abendlichen Diners und der vorangehenden Gebete und Psalmgesänge, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte, spürte Madeleine, wie Nicolas’ Blick sie von Zeit zu Zeit streifte und sie eine leichte Verlegenheit ergriff.
Sie fragte sich, ob es richtig war, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch sie vertraute ihm, hatte sie festgestellt, und von dem Au genblick an, da sie beschlossen hatte, ihm alles zu erzählen, hatte sie eine eigenartige Ruhe überkommen.
Als sie nach dem Abendessen noch einmal kurz in ihr Zimmer zurückkehrte, betrachtete sie sich in dem kleinen holzgerahmten Spiegel, der an der Wand hing. Ihr eigener Anblick war ihr fremd, stellte sie fest, denn im Kloster hatte es keine Spiegel gegeben.
Sie zog sich das Häubchen vom Kopf und musterte das Gesicht der jungen Frau, die ihr entgegenblickte – das kastanienfarbene Haar, die blaugrauen Augen, die durch die schwarzen Wimpern und zarten dunklen Brauen noch betont wurden, und schließlich ihre Lippen, auf denen sie noch immer Vardes’ Finger zu fühlen glaubte.
Draußen konnte man die Glocke des Kirchturms schlagen hören. Sie griff nach ihrem Umhang. Coligny hatte sich wie jeden Abend noch mit seinen engsten
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