Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Vertrauten zurückgezogen, doch er pflegte die Besprechungen gewöhnlich spätestens eine Stunde vor Mitternacht zu beenden, hatte Vardes erklärt.
Leise schlich Madeleine den Gang entlang und über eine Seitentreppe hinunter zum Hof. Sie wollte auf keinen Fall, dass jemand sie sah.
Draußen schlug ihr eine laue klare Luft entgegen. Sie wandte sich nach rechts und lief im Schutze der Mauern bis zu dem rechten Wehrturm. Als sie die Treppe hochstieg, hörte sie oben ein Geräusch. War Nicolas schon da?
Sie nahm die letzte Treppenstufe und trat nach draußen. Ein sternenklarer Himmel empfing sie – und eine Gestalt. Sie lächelte. »Bist du schon lange …«
Erschrocken hielte sie inne, denn der Mann, der auf sie zukam, war nicht Nicolas.
»Freut mich, dich wiederzusehen!«, sagte er.
Entsetzt blickte sie ihn an – die dunklen Augen, die vernarbte Nase … Es war der Bauer, der auf dem Hof gegen sie gestoßen war. Dann begriff sie plötzlich, warum ihr sein Gesicht am Nachmittag so bekannt vorgekommen war – sie hatte ihn schon einmal gesehen. Damals, als sie mit den Gauklern auf dem Marktplatz gewesen war, hatte er mit einem anderen Mann in der Menge gestanden.
Sie schauderte. Panik überfiel sie. Sie wollte sich umdrehen und wegrennen, da spürte sie schon, wie eine zweite Person mit eiserner Umklammerung ihre Arme griff.
Sie versuchte, sich zu wehren. »Nein!« Ein Schrei entstieg ihrer Kehle, dessen Laut noch erstickt wurde, bevor er ganz aus ihrem Mund dringen konnte.
Sie trat verzweifelt um sich. Ein Schlag traf sie im Gesicht.
»Verdammte Protestantenhure«, zischte der Mann vor ihr. »Diesmal entkommst du uns nicht!«
Man warf sie zu Boden. Zwei weitere Schläge gingen auf sie nieder. Dann traf sie etwas an der Schläfe, und ihr wurde schwarz vor Augen.
60
S ie wachte auf, weil sie fror und eine schreckliche Übelkeit verspürte. Ein dumpfer Schmerz pochte in ihrem Kopf.
Wo war sie? Ihre Augen irrten durch den Raum, und obwohl sie die Umgebung in aller Deutlichkeit wahrnehmen konnte, weigerte sich ihr Verstand, die Realität als wirklich anzunehmen: die nackten fensterlosen Steinwände, der kahle Boden, auf den man etwas Stroh geworfen hatte, die eingemauerten Eisenringe und die große beschlagene Tür. Es konnte nichts anderes als ein schrecklicher Traum sein. Doch dann begriff sie, dass sie gar nicht träumte. Der Schock setzte augenblicklich ein. Der Bauer, der Mann, den sie damals auf dem Marktplatz mit den Gauklern gesehen hatte – die Guise hatten sie doch aufgespürt. Man hatte sie entführt und gefangen genommen! Was würde man mit ihr machen? Ihr Herz raste, nein, hämmerte – so laut, dass sie glaubte, man könnte es im Raum hören. Panisch zerrte sie an der eisernen Handschelle, die ihr Handgelenk umschloss. Erst dann bemerkte sie, dass sie mit einer langen schweren Kette mit dem großen Ring in der Wand verbunden war, die ihr gerade so viel Platz ließ, dass sie sich im Sitzen mit dem Rücken gegen die Wand lehnen konnte.
Sie versuchte, ruhig durchzuatmen, und blickte sich um. Ein feuchter, muffiger Geruch hing in der Luft. Es stank nach Exkre menten und menschlichen Ausdünstungen, und sie verspürte eine neue Welle der Übelkeit. Sie war augenscheinlich nicht die erste Person, die man hier gefangen hielt. Es gab kein Fenster in dem Raum, stellte sie fest, nur einen winzigen Lichtschacht, den sie selbst im Stehen nicht einmal mit den Fingerspitzen hätte berühren können.
Stimmen, der Hufschlag von Pferden und das Knallen einer Peitsche drangen von dort gedämpft hinunter. Sie musste sich im Untergeschoss irgendeines Verlieses befinden. Sie sah wieder den Mann vor sich, der oben auf dem Wehrturm gestanden hatte. Diesmal entkommst du uns nicht!
Resigniert lehnte sie den Kopf gegen die Wand. Obwohl ihr Herz noch immer raste, fühlte sie einen leichten Schwindel. Wie lange befand sie sich wohl schon hier? Ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Trinken, sie musste etwas trinken. Ihr Blick irrte erneut durch den Raum, und sie entdeckte erleichtert einen verbeulten Zinnkrug. Er stand etwas entfernt neben ihr auf dem Boden – gerade so weit, dass sie ihn mit der Hand zu sich ziehen konnte. Doch als sie die Lippen gierig an den Rand setzte, stieg ein so ekelhafter fauliger Geruch von dem Wasser hoch, dass sie würgen musste, noch bevor sie den ersten Schluck getrunken hatte. Sie ließ den Krug nach unten sinken und stellte ihn so weit weg, wie sie konnte. Tränen rannen über ihre Wangen,
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