Das Maedchen mit den Schmetterlingen
ihn ein Stein mitten im Gesicht, einmal, zweimal, dann fiel er rücklings ans Ufer. Er konnte das Keuchen des Angreifers neben sich hören, blickte auf und versuchte sich die Augen zu reiben, streckte die Arme aus. Der Schatten stand über ihm, und Michael kauerte sich zusammen, rechnete damit, jetzt endgültig fertiggemacht zu werden, doch zu seiner Erleichterung rannte die Gestalt davon. Er wusste, dass seine Nase gebrochen war, und konnte seinen angestrengt pfeifenden Atem hören. Der Schwindel von vorhin stellte sich wieder ein, und er merkte, wie er hier, am kalten Ufer liegend, langsam in die Bewusstlosigkeit hinüberglitt.
Es war halb sieben Uhr morgens. Etliche Fischer hatten schon ihre Leinen entlang des Seeufers ausgelegt. Am blauen Himmel
war fast keine Wolke zu entdecken. Der See bestand eigentlich aus zwei Seen, die von einem lang gestreckten, schmalen Bergrücken getrennt wurden. Vor den umliegenden Hügeln wirkte er wie ein riesiger blauer Schmetterling, dessen Flügel bis zu den ebenso blauen Bergen reichten, die das Wasser fast völlig umschlossen. Die Luft war trotz der Morgensonne immer noch kühl, und kleine Nebelschwaden hingen über dem See, die ihm eine fast unheimliche Atmosphäre verliehen. Der Angelwettbewerb, der an diesem Vormittag hier stattfinden sollte, hatte bereits zahlreiche Angler angelockt, sodass einige ein Stück weiter in Richtung Árd Glen ausweichen mussten, um noch eine ruhige Stelle am Ufer zu finden.
Tom Healy war sogar noch weiter ausgewichen, weil ihn der Lärm störte. Seit seiner Kindheit angelte er an diesem See und kannte sämtliche guten Stellen. Außerdem hoffte er, den Wettbewerb zu gewinnen, genau wie im letzten Jahr.
»Drück mir die Daumen«, hatte er während des üblichen Daumendrück-Frühstücks mit seiner Frau gescherzt und sich auf den Weg gemacht. Dieses Jahr wollte er einen neuen Rekord aufstellen und die größte Forelle in der kürzesten Zeit fangen. Als er die Leine auswarf, bemerkte er ein Mädchen, das ein Stück weit entfernt am Ufer stand. Er hasste es, wenn sich Kinder in der Nähe seiner Fischgründe herumtrieben, mit ihrem Lärm verjagten sie die Fische.
»He, du da, geh weg und spiel woanders!«, rief er dem Kind zu, das aber nicht reagierte. Was, um alles in der Welt, hatte sie um diese Zeit eigentlich hier draußen zu suchen?
Die Kinder von heute, dachte er, als er sich ihr näherte, voller Wut über ihre Mißachtung - kein Respekt mehr vor dem Alter und gehorchen können sie auch nicht. Er musste an die wöchentlichen Besuche seiner Enkel denken und wurde noch ungehaltener.
Als er näher kam, sah er, dass da etwas zu Füßen des Mädchens lag.
»Wahrscheinlich ein totes Tier«, murmelte er, als er den Fliegenschwarm bemerkte. Hoffentlich machte nicht gerade jetzt, wo er nicht da war, jemand anders einen Fang. Er warf einen Blick zurück, um sicher zu sein, dass mit seiner Leine alles in Ordnung war.
Mit zusammengekniffenen Augen ging er auf die Stelle zu und wünschte, er hätte seine Brille dabeigehabt. Dann erkannte er, worauf das Mädchen die ganze Zeit starrte, und er fiel rücklings ins Gras und würgte die Überreste des Frühstücks hervor, das seine Frau ihm zubereitet hatte. Seine Hoffnung auf den größten Fang war schlagartig bedeutungslos geworden.
Auf die blutbesudelte und übel zugerichtete Leiche Michael Byrnes hier am Seeufer zu stoßen, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Noch schockierender aber war das Mädchen, Tess, das mit gespreizten Beinen über ihrem Vater stand und einen großen Stein in der Hand hielt.
Als Kate Byrne aufwachte, wunderte sie sich nicht, dass ihre Schwester nicht im Zimmer war. Tess stand oft schon vor dem Morgengrauen auf und schlüpfte zum Fenster ihres gemeinsamen Zimmers hinaus. Meistens lief sie zum See hinunter und verbrachte den ganzen Vormittag dort, bis sie auf die Minute pünktlich zum Essen erschien. Schmetterlinge übten eine große Faszination auf Tess aus, und sie konnte Stunden damit zubringen, am Ufer zu sitzen und sie zu zeichnen. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte sie Seán einmal überredet, eine Holztafel am Hoftor anzubringen, die mit Schmetterlingen verziert war und auf der »Land der Schmetterlinge« stand. Tess hatte in der Schule die Entstehung der Republik Irland
durchgenommen und war erstaunt, dass Menschen sich einfach ihr eigenes Land schaffen konnten - so stellte sie es sich jedenfalls vor. Seán und Kate hatten gelacht und ihr erklärt,
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