Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Treppe hinunterging. Er fühlte sich nicht so, wie er es beim Anblick seines Sohnes eigentlich erwartet hatte. Keine Woge der Liebe, kein Drang, ihn in den Arm zu nehmen. Stattdessen empfand McCracken tiefe Scham und Schuld. Ob Seáns Leben besser verlaufen wäre, wenn er damals, vor vielen Jahren, das Richtige getan hätte? Er stand da und sah seinen Sohn den Quai entlang laufen und die Ha’penny Bridge grüßte symbolisch in der Ferne.
Kapitel 15
1981
W ieder einmal fand sich Sam Moran in Mattie Slatterys Kneipe wieder. Heute war es zwar noch zu früh für einen Drink, aber es gab Informationen, die Mattie, wie Sam wusste, ihm nur allzu gerne anvertraute. Mattie konnte sich noch gut an den Fall erinnern; damals war ein Mord hier in der Gegend noch etwas ganz Außergewöhnliches gewesen. Er wusste auch noch, wer der zuständige Polizeibeamte gewesen war. Sergeant Pete Mullins ließ sich nach wie vor gelegentlich im Slattery’s sehen, obwohl er jetzt im Ruhestand war. Und auch Tom Healy, der Mann, der das Mädchen über dem Leichnam stehend entdeckt hatte, wohnte noch am Ort. Mattie meinte, dass Healy, der mittlerweile uralt und stocktaub war, unter Umständen bereit sein könnte, sich mit Moran zu unterhalten. Und er erzählte Sam von Mauras Bruder Jimmy Kelly und dass Jimmy immer noch verbittert war, weil er seinen Hof verloren hatte. Allerdings war Jimmy wohl kaum gewillt, mit Sam zu reden, aber vielleicht konnte er es ja mal bei Jimmys Sohn Liam versuchen. Der war bekannt für sein loses Mundwerk, wenn er ein paar Drinks intus hatte.
»Was ist mit dem Mädchen, Mattie? Meinst du, sie würde mit mir reden, mir ihre Sicht der Dinge darlegen?«
»Ha! Da nimmst du dich aber ein bisschen zu wichtig, Sam. Es ist einen Versuch wert, schätze ich, aber ich hab dich gewarnt.
Das Mädchen ist irgendwie komisch. Und außerdem ist sie nie alleine. Wenn du mit ihr reden willst, dann musst du erst mal an ihrer großen Schwester vorbeikommen!« Mattie verzog sich kichernd und schüttelte den Kopf über diesen unbedeutenden Zeitungsfritzen, der sich Journalist nannte.
Dermot Lynch gewöhnte sich langsam an die eigenartige junge Frau, die er erst vor wenigen Wochen in Dublin abgeholt hatte. Er hatte gerade in der Scheune zu tun, als er sie auf sich zukommen sah. Ihre grüblerische Miene verriet ihm, dass sie ihn gleich wieder mit ihren Fragen löchern würde.
»Dermot, woher kommst du?«
»Galway.«
»Wie ist es da?«
»Wie hier, es regnet bloß mehr«, erwiderte Dermot knapp. Er hatte bereits begriffen, dass er seine Sätze kurz halten musste, wenn er mit Tess sprach. Nicht, dass sie dumm gewesen wäre - sie war nicht auf den Kopf gefallen -, aber zu viele Wörter verwirrten sie.
»Hast du dort eine Freundin?«
»Was?«
»Eine Freundin, die du mal heiraten willst?«
»Tess, das ist eine persönliche Frage!«, entgegnete Dermot verlegen.
»Du entschuldigst dich«, sagte Tess hastig. Sie wollte Dermot nicht verärgern.
»Tess, es heißt › Ich entschuldige mich‹ , nicht › Du entschuldigst dich‹ .«
»Ich entschuldige mich, Dermot«, erwiderte Tess mit gesenktem Kopf.
Dermot sah ihre unglückliche Miene und beschloss, ihre Frage zu beantworten.
»Es gibt Menschen, die nur ungern nach persönlichen Dingen gefragt werden, Tess, aber ich gebe dir eine Antwort. Nein, ich habe keine Freundin in Galway.«
»Und hast du hier eine, in Wicklow?«, fuhr sie fort und hob interessiert den Kopf.
»Nein, Tess, ich habe überhaupt keine Freundin. Bist du jetzt zufrieden?«
»Ja.« Dann rannte sie ins Haus zurück, während Dermot sich lachend und kopfschüttelnd wieder an die Arbeit machte.
Kate Byrne hatte alle Hände voll zu tun. Seitdem Seáns Zustand sich immer mehr verschlechterte und sie gezwungen gewesen waren, Dermot Lynch als Hilfskraft einzustellen, hatte Kate zusätzlich zur Hausarbeit auch auf dem Hof immer mehr Pflichten übernehmen müssen. Sie gab gerade drei Lämmern die Flasche, als Tess mit gesenktem Kopf um sie herumschlich, die nächste Fragensalve bereits im Köcher.
»Kate?«
»Ja, Tess?«
»Dermot Lynch hat keine Freundin.«
»Ach, tatsächlich? Das ist ja wirklich hochinteressant«, erwiderte Kate, obwohl sie wusste, dass Tess nicht den geringsten Sinn für Sarkasmus besaß.
»Findest du ihn nett, Kate?«
Kate runzelte unangenehm berührt die Stirn. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Tess sich in dieser Hinsicht weiterentwickeln würde.
»Ja, Tess. Ich finde, er ist ein
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