Das Maedchen mit den Schmetterlingen
netter Mann, aber eigentlich passt er besser zu einer Frau in meinem Alter, findest du nicht?«
»Ja.« Tess nickte zustimmend und verschwand.
Kate sah ihrer Schwester nach, die gemächlich den Weg in
die Felder einschlug. War Tess nicht schrecklich einsam auf dem Hof? Sie ärgerte sich über Seán, der Tess nur anschrie, sobald sie den Mund aufmachte. Kate hatte schon versucht ihn zur Rede zu stellen, und er hatte behauptet, Tess’ starren Blick nicht ertragen zu können. Aber Kate hatte den Eindruck, dass Seáns Verhalten weniger mit ihrem starren Blick als vielmehr mit der Tatsache zusammenhing, dass Tess die Eigentümerin des Hofes war. Vielleicht hatte Deirdre ja eine Idee, womit Tess sich beschäftigen könnte, anstatt den ganzen Tag nur auf dem Hof herumzuhängen. Und vielleicht schlug sie sich dann auch Dermot Lynch aus dem Kopf.
Sam Moran kletterte über das marode Eingangstor zu Tom Healys Grundstück. In der Regel kündigte er sein Kommen nicht telefonisch an. Er wusste aus Erfahrung, dass die meisten Leute nur ungern mit Reportern sprachen und dass man, wenn man sie unvorbereitet erwischte, sehr viel eher an eine Geschichte kam, als wenn man höflich um einen Gesprächstermin bat. In der Ferne war das laute Bellen eines Hundes zu hören, und Sam wurde nervös. Als er sich der alten Kate näherte, die keine hundert Meter hinter dem Eingangstor stand, wurde das Bellen lauter. Sam hasste Hunde, obwohl er nicht genau wusste, warum. Dort, wo er aufgewachsen war, waren immer Hunde auf der Straße gewesen. Ein Psychologe, den er mal in einer Kneipe kennengelernt hatte, hatte gemeint, dass er möglicherweise als kleines Kind gebissen worden sei und sich nicht mehr daran erinnern könne. Sam hielt das für Humbug.
Hoffentlich konnte er nach dem Gespräch mit Healy noch mit Sergeant Mullins sprechen. Er musste unbedingt erfahren, was das Mädchen bei seiner Festnahme gesagt hatte, und zwar wortwörtlich. Als Sam schließlich vor der Hütte stand,
waren seine guten Lederschuhe über und über mit Kuhfladen bedeckt. Zu seiner Erleichterung war der Hund angeleint, und zwar so, dass man als Besucher gerade noch ungefährdet an die Tür klopfen konnte. Während der Hund ununterbrochen bellte und an der Leine zerrte, die ihn daran hinderte, über den schwitzenden Moran herzufallen, erschien nach einer Ewigkeit, wie es Moran scheinen wollte, ein alter Mann.
Tom Healy öffnete die quietschende Tür und musterte ihn aus verquollenen Augen.
Er war jetzt zweiundachtzig Jahre alt und hatte das Angeln schon vor Jahren aufgegeben. Sein Sehvermögen war durch den Grauen Star stark eingeschränkt, woran auch zwei Operationen in Dublin nichts hatten ändern können. Seine Frau war vor acht Jahren überraschend gestorben. Eines Morgens war er zum Fischen gegangen und hatte sie schlafend in dem Bett zurückgelassen, das sie seit über fünfzig Jahren teilten. Als er nach Hause kam, stellte er verwundert fest, dass sie immer noch im Bett lag. Auf ihren eiskalten Lippen lag ein leises Lächeln, und als er ihr einen allerletzten Kuss gab, hoffte er, dass es ihm gegolten hatte. Es war eine gute Ehe gewesen, und sie hatten neun Kinder gehabt. Zwei waren im Kindesalter gestorben. Tom hatte nie einen Tropfen Alkohol angerührt, hatte nie die Hand gegen seine Frau oder die Kinder erhoben und war überzeugt, dass sie deshalb so glücklich gewesen waren. Seine Söhne und Töchter waren nun über die ganze Welt verstreut, nur eine Tochter war hier am Ort geblieben. Seine Kinder schrieben oft und schickten ihm Familienfotos aus Melbourne, Auckland und Toronto. Er hatte sie nie besucht, weil er sich weigerte, ein Flugzeug zu besteigen. Nur einmal war er in London gewesen, mit dem Schiff, zur Hochzeit seines großen Bruders vor über fünfzig Jahren. Er hatte ein bescheidenes Leben geführt. Die kleine Farm, die er von
einem unverheirateten Onkel geerbt hatte, brachte nicht genug ein, um seine große Familie zu ernähren, weshalb er, sobald sein Ältester groß genug gewesen war, um sich um das Vieh zu kümmern, regelmäßig in Dublin auf Großbaustellen gearbeitet hatte. Jedes Mal hatte Doreen ihm schrecklich gefehlt, und er konnte sich noch gut erinnern, wie einsam er sich gefühlt hatte. Genauso einsam fühlte er sich auch jetzt, seit Doreen gegangen war, sogar inmitten einer Menschenmenge. Immer hieß es: »Du wirst schon drüber wegkommen, Tom, mit der Zeit.« Er wollte aber gar nicht über Doreen hinwegkommen, und so war er
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