Das Maedchen mit den Schmetterlingen
jemandem sehr schlimm wehgetan hast?«
»Ja. Ich habe Ben gezwickt, weil ich wollte, dass er aufhört zu schreien.«
»Tess. Ich meine etwas Schlimmeres, als deinen Bruder zu zwicken. Zum Beispiel jemanden so sehr zu verletzen, dass er stirbt. Hast du so etwas schon mal gemacht?«
»Ja. Im Garten habe ich mal einen Schmetterling sterben lassen. Er hat Kates Kohlköpfe angefressen.«
Dr. Cosgrove seufzte nicht zum letzten Mal. Das Mädchen hatte die Gewalttat entweder völlig verdrängt oder sie schlicht und einfach nicht begangen. Die richtige Antwort, so viel wurde ihm heute klar, würde er vermutlich nie erfahren. Tess Byrne war nicht in der Lage, seine Fragen zu beantworten, ihre kognitiven Fähigkeiten entsprachen denen eines sehr viel jüngeren Kindes.
Cosgrove stellte fest, dass er anfing, Tess in sein Herz zu schließen. Ihre Arglosigkeit und Einfalt stimmten ihn zuweilen traurig, und ihre Sturheit frustrierte ihn, aber er mochte sie gern. Und im Grunde genommen wollte er es gar nicht wissen, wollte nicht glauben, dass dieses Kind töten konnte.
Seán stieg die Treppe zum Rechtsanwaltsbüro in Knockbeg hinauf und wartete geduldig auf einem alten Holzstuhl im Vorzimmer. Ein junger Mann öffnete die Tür des Büros, das früher einmal Mr. Brown gehört hatte, und reichte Seán die Hand. Er strahlte über das ganze Gesicht.
»Mr. Byrne, ich bin Ciaran Brown, der Sohn von Terence Brown. Mein Vater ist letztes Jahr in den Ruhestand gegangen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich mich um Ihre Angelegenheiten kümmere?«
»Nein, absolut nicht«, erwiderte Seán. Er war nervös und ein wenig verlegen.
»Was kann ich für Sie tun?«
Seán musterte den geschniegelten jungen Rechtsanwalt mit der offensichtlich privilegierten Herkunft misstrauisch und empfand unwillkürlich ein wenig Neid auf diesen unverbrauchten, studierten Mann.
»Mein Vater, Michael Byrne, ist vor Kurzem gestorben, und
ich möchte mich nach seinem Testament erkundigen«, sagte Seán leise und errötete.
»Ja, ich habe davon gehört. Mein herzliches Beileid, Mr. Byrne, aber Ihr Vater war gar nicht mehr unser Mandant. Er hat sämtliche Urkunden und Unterlagen an eine Kanzlei in Dublin übergeben. Hat er Sie davon nicht in Kenntnis gesetzt?«
»Was? Wieso … wieso hat er das gemacht?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid. Ich habe in der Akte nachgesehen, und er hat tatsächlich im Jahr 1961 ein Testament bei uns hinterlegt, aber das ist jetzt hinfällig, da er in Dublin ein neues verfasst hat. Er hat uns gebeten, die Akte an seinen neuen Rechtsanwalt zu schicken. Die Kanzlei befindet sich in der Nähe des Quais, glaube ich. Ich sage Claire, sie soll Ihnen die Adresse heraussuchen.«
»Wann hat er das gemacht?« In Seáns Kopf drehte sich alles.
»Vor ein paar Monaten«, erwiderte Brown nüchtern.
Seáns Verstand stand still, während der Rechtsanwalt durch ein Gerät auf seinem Schreibtisch mit seiner Sekretärin sprach. Schon wenige Minuten später erschien die junge Frau, die ihm die Tür aufgemacht hatte, und überreichte dem Anwalt einen Zettel.
»Bitte sehr, Mr. Byrne. Ich möchte Ihnen erneut mein Beileid aussprechen. Falls meine Kanzlei noch irgendetwas für Sie tun kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns in Zukunft mit Ihren juristischen Angelegenheiten betrauen würden.«
Seán hörte überhaupt nicht zu, als der junge Mann über die langjährigen Geschäftsbeziehungen ihrer Familien schwadronierte und dass sein Vater, Seáns Großvater, den leider schon verschiedenen Tim Kelly gekannt habe. Seán hörte kurz, wie
Ciaran Brown seine Mutter erwähnte - »Eine wundervolle Frau, ich kann mich gut an sie erinnern« -, doch ansonsten nahm er kein Wort wahr.
Stattdessen starrte er auf den Zettel in seiner Hand und las laut, was darauf stand.
Roberts and Holford - Rechtsanwälte
Aaran Quay - Dublin 1
Seán blickte auf, und sein Magen verkrampfte sich. Er brauchte gar nicht erst zu fragen, warum sein Vater die Kanzlei gewechselt hatte. Es konnte nur eine Erklärung geben. Sein Vater hatte ihm den Hof nicht vermacht.
Als Seán unangemeldet in der Kanzlei in Dublin auftauchte, musterte ihn die hochnäsige Sekretärin von Kopf bis Fuß und seufzte vernehmlich, während sie einem ihrer Vorgesetzten ein paar Worte ins Telefon murmelte. Seán blickte auf seine Schuhe hinab und stellte fest, dass er für ein solches Gespräch nicht gerade angemessen gekleidet
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