Das Maedchen mit den Schmetterlingen
gesenktem Kopf, die Hände im Schoß gefaltet, wirkte Brigid, als würde sie beten.
»Wohnen Sie schon immer hier?«
»Schon lange, ja, seit über zwanzig Jahren.«
Seán versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Er wusste, dass sein Besuch sich dem Ende näherte und es jetzt darauf ankam. Er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass er dieses Haus schon einmal gesehen hatte.
»Ist sie vielleicht mal zu Besuch hier gewesen. Mit mir?«
»Was?« Ob Seán vielleicht mehr wusste, als er zugeben wollte?
»War ich schon mal hier? Die Einrichtung kommt mir so bekannt vor. Als hätte ich schon mal irgendwo ein Foto davon gesehen.«
»Ach Gott, nein, Schätzchen. Ihrer Mutter hat es in Dublin nie so richtig gefallen. Sie hat die Stadt richtiggehend gehasst«, entgegnete sie nervös und mit dem sicheren Gefühl, dass sie sich gerade ihr eigenes Grab schaufelte.
Wenn es nicht um ihren Bruder gegangen wäre, den sie unbedingt schützen musste, dann hätte Brigid nichts lieber getan, als die Arme um ihren Neffen zu schlingen und ihn willkommen zu heißen. Doch so weit würde es niemals kommen. Sie würden ihr Leben lang Fremde bleiben.
Seán seufzte vernehmlich und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Er blickte zu Boden und musterte den abgewetzten dunkelroten Teppich.
Brigid erhob sich.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte, meine Junge. Was genau möchten Sie denn eigentlich wissen?« Sie musste wissen, welchen Verdacht Seán hegte.
»Ach, ich weiß auch nicht. Ich glaube, meine Mutter war - unglücklich, verstehen Sie? Ich dachte einfach, Sie könnten mir vielleicht ein bisschen was über sie erzählen, über ihr Leben, über Dinge, die ich noch nicht weiß«, schloss er resigniert und niedergeschlagen.
Der Anblick dieses Häufchen Elends brach Brigid fast das Herz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich kann mich noch gut an ihr Lachen erinnern, ihre Lebensfreude … sie war immer so fröhlich. Aber das ist auch schon alles, mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, mein Kind.«
Seán blickte auf die kleine Dublinerin hinab. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass sie dafür, dass sie seine Mutter kaum gekannt hatte, einen ziemlich weiten Weg zur Beerdigung auf sich genommen hatte, aber er wollte nicht unhöflich sein. Brigids Miene verriet ihm, dass sie wusste, was er dachte. Er bedankte sich, dass sie sich Zeit für ihn genommen hatte, und ging.
Auf dem Heimweg ging Seán nicht aus dem Kopf, wie verschlossen Brigid Daly gewesen war, und ihm war klar, dass sie ihm nicht alles gesagt hatte. Sie hatte behauptet, seine Mutter habe Dublin gehasst, was, wie er wusste, nicht der Wahrheit entsprach. Erschöpft fragte er sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte. Wenn sein leiblicher Vater in irgendeiner Weise an ihm interessiert gewesen wäre, hätte er im Lauf der
Jahre mit Sicherheit versucht, Kontakt aufzunehmen, spätestens nach dem Tod von Michael Byrne. Es hatte keinen Zweck, mit Kate darüber zu sprechen, ihr schien die Sache völlig gleichgültig zu sein, was ihm unbegreiflich war. Aber es musste doch irgendeinen Menschen in Árd Glen geben, der wusste, wer sein Vater war.
Seán war noch keine drei Kilometer gefahren, da stand Brigid Daly bereits in Schal und Mantel im Flur ihres Hauses. Ihre schwarze Handtasche baumelte an ihrem rechten Arm. Zunächst war sie fest entschlossen gewesen, ihren Bruder in der Kanzlei aufzusuchen und ihm zu erzählen, dass sein Sohn bei ihr gewesen war, der sie irgendwie aufgestöbert hatte, ohne zu wissen, dass sie seine Tante war, die Schwester seines leiblichen Vaters. Eine Neuigkeit, die sie ihm nicht am Telefon, sondern lieber persönlich überbringen wollte. Doch dann blieb sie wie angewurzelt auf dem rot gemusterten Linoleumfußboden ihres engen quadratischen Flurs stehen, um gleich darauf mit schnellen Schritten die Treppe hinaufzuhasten. Plötzlich war ihr klar geworden, dass es alles andere als eine gute Idee war, ihrem Bruder von Seáns Besuch zu erzählen. Schließlich hatte Éamonn hartnäckig darauf bestanden, dass sie nicht zu Mauras Beerdigung fuhr. Sie hatte ihn sogar gebeten, sie zu begleiten, doch er hatte sich geweigert, angeblich, weil die Erinnerungen ihn überwältigt hätten. Brigid hatte jedoch das Gefühl, dass der Grund ein anderer war, dass er den Anblick des Sohnes und der Tochter, die er im Stich gelassen hatte, nicht verkraftet hätte. Sie wusste, dass ihr Bruder ein schlechtes Gewissen hatte, da sie beide
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