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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Flanke.
    Es spuckte. » Böse«, sagte das Piefel. »Will nich. Mag nich. Will in Wüste.« Und durch wildes Herumgewinde an der Leine gelang es ihm, Tanaquil kurz anzuspringen und umzuwerfen. Während sie und das Piefel hart auf das Pflaster aufschlugen, hörten sie, wie die Wachen ihre starre Maske fallenließen und in herzhaftes Gelächter ausbrachen. »Das ist Spitze«, keuchte der eine atemlos vor Lachen. »Kannst du das noch mal machen?«
    »Einmal reicht für heute«, versetzte Tanaquil.
    »Beißen!« knurrte das Piefel und biß auf der Leine herum. »Wup!«
    »O ja, das ist wirklich phantastisch!«
    Das Piefel fluchte, und die Soldaten bekamen fast einen Anfall. Sie machten den Eingang für Tanaquil
    frei und klopften ihr bei weitem zu herzhaft auf die Schulter, während sie das kratzende und spuckende Piefel in die Stadt zerrte. »Viel Glück, Junge. Das ist 'ne tolle Nummer, die du da hast. Wir werden es allen unseren Kumpels weitersagen.«

 
6
     
    Jede noch so phantastische Vorstellung, die Tanaquil sich von der Stadt gemacht hatte, wurde von der Wirklichkeit weit übertroffen. Sogar Jaive hatte in ihrem magischen Spiegel nie so etwas gezeigt. Es war, als befinde man sich im Inneren eines enormen Uhrwerks aus zahllosen Stücken und Teilchen. Es schien gleichzeitig aus den Fugen geraten und präzise, zufällig und vorherbestimmt zu sein. Genauso, wie der Stadtlärm eine Mischung aus Tausenden von Geräuschen war, so war auch die Gestalt der Stadt aus allen möglichen und unmöglichen Formen zusammengesetzt - Linien, Ecken, Ausbuchtungen, Kegeln, Rundungen. Und ihre Grundfarben, Braun, Gelb und Weiß, blühten in der Mittagssonne zu vielfältigen Farbblumen auf, zu grellen, metallischen Blitzen und gebrochenen Indigoschatten.
    Tanaquil versuchte gar nicht erst, das alles in sich aufzunehmen, sie betrat es einfach, stierte wild umher und war überwältigt. Während das Piefel sie mit lautstarker Verwirrung begleitete — die millionenfachen Düfte der Stadt hatten seine Aufmerksamkeit vollständig gefesselt -, grollte und winselte es vor sich hin, schnüffelte und grunzte, und manchmal quiekte es sogar. Beizeiten preschte es dem einen oder anderen Wunder in einem Ausfall hinterher, und Tanaquil, in ihrer Konzentration gestört, wurde dann gegen irgendeine Ziegelmauer oder in eine elegante Allee gezogen. Sie spielte mit dem Gedanken, das Piefel von der Leine zu lassen und ihm so seine eigene Stadtbesichtigung zu schenken. Vielleicht bekäme sie das Tier nie wieder zu Gesicht - irgend etwas Gräßliches mochte ihm widerfahren. Es war nur an die Wüste gewöhnt, fühlte sich hier genauso fremd wie sie.
    Zunächst, in der Nähe des Tors, waren ihr nur wenige Menschen begegnet, kleine Gruppen, in denen man in die Stadt reisen mochte, Frauen im Hauseingang oder am Brunnen, Männer mit geschulterten Spaten. Dann öffneten sich die Gassen, die sich im Schatten der Wände zwischen Bogengängen in- und umeinander zu winden schienen, auf eine breite, weiße Prachtstraße. Palmen von beeindruckender Höhe säumten sie, und es gab Wassertröge, an deren einen man drei blankgestriegelte Pferde zum Trinken geführt hatte. Die Ränder des Boulevards wimmelten von allen möglichen Leuten, und an den Fenstern und Türen und auf den Balkonen der Gebäude entlang der Straße drängten sich Menschenmengen, dicht gepackt wie Trauben an einer Rebe. Treppenfluchten führten so weit himmelwärts in schwindelerregende Höhen, daß man unten von der Straße aus ihr Ende nicht erkennen konnte, und auf diesen Treppen flitzten die Bürger hinauf und hinunter, und manchmal stießen sie auch zusammen. Äste von Bäumen wanden sich von Dachgärten aus in den Himmel. Fenster aus buntem Glas leuchteten auf, wenn sie unablässig weit geöffnet und dann wieder geschlossen wurden. Der Boulevard dröhnte vor Stimmen und vom Lärm der Gefährte, die in beiden Richtungen die Straße entlangratterten. Streitwagen und Karren, seidene, auf den Schultern von einhertrabenden Männern getragene Sänften und auch ein stattliches Kamel unter einer Ladung grüner Bananen.
    Tanaquil stakste die Straße hoch und schubste sich durch den Menschenschwarm, wie es hier offensichtlich jeder tat. Das Piefel, nunmehr sehr kurz an der Leine gehalten, blieb dicht bei ihr; sein Murren verlor sich in dem allgemeinen Aufruhr.
    Bald begannen sich die Gebäude zu wundervollen Geschäften zu öffnen. Sie erspähte Regale mit Kuchen, die wie Juwelen, und Auslagen von

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