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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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eines Spielzeugsoldaten und begab sich erneut an die Arbeit.
    Vier Stunden später waren alle Gegenstände wieder abgeholt worden, und eine Handvoll Münzen stapelte sich im Licht der Fackeln, glänzend wie die Schlange. Irgendwo läutete eine Glocke. Es war Mitternacht. Aufblickend gewahrte Tanaquil einen abgerissenen Mann vor sich stehen. Eine Eisenkappe saß auf seinem Kopf und verdeckte seine Augen. Mit seinem Stock stocherte er in eine unsichtbare Leere. Ein blinder Bettler.
    »Klick klack«, sagte er. »Ich hörte die Münzen fallen. Gib mir eine.«
    Tanaquil legte eine Münze in seine abgemagerte, suchende Hand.
    Die Erinnerung an das Einhorn kehrte mit einem Stich im Herzen zurück. Diese unvollkommene Welt -
    Bindats Frau, Kuckuck, schlug Tanaquil vor, sie könne für die Gebühr von drei Pfennig die Nacht in einem Nebengebäude ihres Hauses verbringen. Tanaquil, die erschöpft war, nahm das Angebot an. Sie hatten allerdings noch einen langen Weg bis zu Bindats Heim zurückzulegen, das hinter dem großen Markt und weit abseits der Prachtstraße in einem Elendsviertel lag. Hier lehnten sich die Hütten gegeneinander, um nicht umzufallen, wacklige Holzbrücken hingen über den Straßen, und Wäscheleinen, von denen Diebe just in dem Moment, als sie vorbeikamen, die Wäsche stahlen. Bindat und Kuckuck tauschten einen warmherzigen Gruß mit einem der Diebe. Das >Nebengebäude< war eine baufällige Hütte, weiß vor Frost. Holz war dort aufgestapelt, und Käfer krabbelten und summten emsig darin herum. Das Piefel, endlich frei von der Leine, verbrachte die ganze Nacht damit, diese Käfer zu jagen und zu verspeisen, obwohl Tanaquil die Schale dünnster Suppe, die sie erhalten hatte, mit ihm geteilt hatte. Sehr früh am nächsten Morgen erfuhr Tanaquil, daß sie zusätzlich zu den drei Pfennigen für ihre komfortable Unterbringung auch noch den Hof kehren und die Ziege melken durfte. Als Kind hatte sie im Austausch für einen extra Leckerbissen manchmal die Ziegen in der Festung ihrer Mutter gemolken. Diese Aufgabe hier war allerdings wesentlich schwieriger, denn die Ziege und das Piefel hatten einander den Krieg erklärt.
    Nach einem Frühstück aus verbrannten Brotkrusten kehrte Tanaquil mit Bindat und Kuckuck durch die heißen, stinkenden Abwässerkanäle hindurch und, an lamentierenden ehemaligen Wäschebesitzern vorbei, zum Basar zurück. Tanaquil war erfreut, daß eine Schlange von Kunden unter dem Marmorlöwen auf sie wartete: Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet.
    Gegen Mittag kam Bindat zu ihr herüber und eröffnete ihr in freundlichem Ton, daß er die Hälfte ihrer Einnahmen für sich beanspruchte, da er und Kuckuck ihr persönlich alle Kunden geschickt hätten. Während er auf sie einredete, reinigte Kuckuck an ihrem Stand ein langes Messer.
    Tanaquil verzichtete auf eine Diskussion. Sie gab Bindat die Hälfte ihrer Münzen. Als er gegangen war, erklärte sie ihrem nächsten Kunden, daß sie zu den Zelten der Gewürzverkäufer wechseln werde, deren Geruch sie bereits magisch angezogen hatte. Nachdem sie alle bereits reparierten Gegenstände ihren Wachhunden übergeben hatte, machte sie sich davon und stieg die Terrassen hinunter, fort aus Bindats Blickfeld. Inmitten der Gewürztöpfe ließ sie sich unter einem Obelisken mit einem Fisch auf der Spitze nieder, das Piefel an ihrer Seite. Während sie ihre Arbeit wieder aufnahm, betrachtete sie den Fischmarkt unterhalb ihrer neuen Stellung und das blaue Meer, das im Kontrast zum Hafen grüner wirkte.
    Ein- oder zweimal während der Nacht in dem Nebengebäude hatte sie im Halbschlaf vermeint, das Einhorn draußen vor der Tür zu spüren, rein wie schwarzer Schnee inmitten des Elendsviertels. Doch wenn sie dann aufwachte, weil das Piefel auf wilder Käferjagd über sie stolperte, wußte sie, daß das Einhorn nicht dort sein konnte.
    Nun fühlte sie sich, als arbeite sie in einer Gewürzkiste - Pfeffer und Ingwer, Zimt und Ysop und Anis, und im Hintergrund der fischige Salzgeruch des Meeres.
    Das Piefel nieste und vertilgte das Bratenstück, das sie ihm gekauft hatte. Dann schlief es nach seiner schweren Nacht auf ihrem Fuß ein, und der tat es dem Piefel gleich.
    Ein Schatten fiel auf Tanaquil, als sie den Rahmen eines mechanischen Brettspiels befestigte, der eine Ansammlung kleiner Porzellantierchen zusammenhielt. Sie blinzelte hoch. Ihre neuen Kunden waren drei stattliche Männer. Derjenige in der Mitte trug schwarze und rote Gewänder, und

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