Das Mädchen und das schwarze Einhorn
sein.
Sie schliefen ein und wurden von der aufgehenden Sonne geweckt.
Als sie aus der Höhle trat, entdeckte Tanaquil, daß die Hügel im Westen sanft zu einer gigantischen Ebene hin abfielen. Von der aufgehenden Sonne angestrahlt, glitzerte ein goldener Halbmond am entferntesten Punkt der Ebene auf, wo in einer sanften Biegung der Himmel mit dem Land verschmolz.
»Das ist die Stadt«, erläuterte Tanaquil dem Piefel. Das Piefel widmete sich seiner Morgentoilette, hatte keinen Blick für sie übrig. »Und dahinter liegt das Meer.«
Sie war überaus beeindruckt. Einen Moment lang fühlte sie sich, als müsse sie auf und ab hüpfen und brüllen, aber sie unterdrückte die Anwandlung.
Mit großer Wahrscheinlichkeit würde es mehrere Tage dauern, die Ebene zu durchqueren, doch die Art der Landschaft, zu der Tanaquil nun hinabstieg, beruhigte sie. Der Sand hatte dünnem Gras und hin und wieder auch ausgedehnten Flächen von wilden, roten und purpurnen Blumen Platz gemacht. Palmen und Akazien wuchsen hier, es gab Obstgärtchen mit Palmen, Feigen-, Öl- und Zitronenbäumen hinter langen Mauern. Dörfer lagen wie Trittsteine zur Stadt in der Ebene verstreut. Mutig betrat Tanaquil eine der Ansiedlungen und bat um eine Frucht. Sie hielten sie für einen Jungen mit sehr langem Haar, gaben ihr die Frucht und staunten über das >zahme< Piefel. Tanaquil und das Piefel wanderten den ganzen Tag lang, und Tanaquil fluchte über ihre schlechtsitzenden Secondhand-Stiefel. Bei Sonnenuntergang frischte ein heftiger Wind auf. Männer tauchten in den Obstgärten auf und deckten die jungen Bäumchen gegen die Kälte ab. Da noch ein anderes Dorf auf ihrem Weg lag, betrat Tanaquil auch dieses und fragte eine Frau auf der Straße, ob sie ihr für eine Nacht Unterkunft geben könne. »Ich kann Dinge reparieren«, fügte sie als Köder hinzu.
Die Frau überließ ihr die Scheune zum Übernachten, und auf der Stelle wurde ihr der Musikautomat des Dorfs — in Einzelteilen — gebracht. Tanaquil ließ sich ohne ihre Stiefel auf dem Stroh nieder und arbeitete an der Apparatur, während das Piefel wirkliche und eingebildete Mäuse ragte und der Schnee die Ränder des Dorfs weiß zu färben begann. Als sie die Arbeit beendet hatte, gaben sie ihr eine Mahlzeit aus pfeffrigem Haferschleim und Oliven und holten den Musikautomaten wieder ab. Sie hörte ihn die ganze Nacht über von Haus zu Haus spielen.
In der Nacht ging die Nacht durch die Gassen.
Tanaquil erwachte und erblickte durch den Ritz unter dem Scheunentor vier schwarze Säulen mit einem Schweif aus glänzendem Meer. Sie hörte, wie die Spirale des Horns am Scheunentor entlangschabte. Sie spürte seinen Schrecken, seine Magie und die Unmöglichkeit, daß es dort stehen sollte, daß sie zu ihm hingehen sollte.
»Was willst du?«
Doch das Einhorn strich schweigend wie der Wind durch die Straßen des Dorfs, ohne Musik.
Kurz vor Sonnenaufgang starrten vier oder fünf Frauen beim Brunnen auf pinkfarbene, gefrorene Hufspuren im Reif.
»Was ist das denn?« fragten sie.
»O ja, was kann das sein?« stimmte Tanaquil ihnen zu.
Das Piefel legte seiner Gastgeberin sieben tote Mäuse, Opfer der Gesetze dieser grausamen, bösen Welt, zu Füßen.
Und so erreichte Tanaquil, die Tochter der Zauberin Jaive, schließlich jene Stadt, von der sie seit beinahe sechzehn Jahren nur seltsame Gerüchte gehört hatte.
Sie fühlte sich an diesem Tag in einer solchen Hochstimmung, da sie es bis dorthin geschafft hatte, als hatte sie die Stadt eigenhändig geplant und gebaut.
Nachdem sie einen kleinen Hain verlassen hatte, erblickte Tanaquil als erstes einen der steinernen Obelisken. Dieser hier markierte den Beginn einer gepflasterten Straße. Trotzdem war es nur eine recht schmale Straße, und leer überdies. Als sie nach beiden Seiten Ausschau in die Ebene hielt, erblickte sie in weiter Ferne Anzeichen von Staub und Verkehr, der sich offensichtlich auf breiteren Straßen der Stadt näherte-.
Die enge Straße, auf der ein leichterer Wagen und ein Maultier bequem hätten ziehen können, schlängelte sich durch Wäldchen aus Zitronenbäumen und Flieder, und an einer Stelle gab es auch einen steinernen Trog mit Wasser und einem durch eine Kette gesicherten Eisenlöffel. Die Kette überzeugte Tanaquil, eine Idee in die Tat umzusetzen, die sie schon seit geraumer Zeit geplant hatte.
»Piefel, hättest du etwas dagegen, wenn ich dir eine Leine anlegen würde?«
Das Piefel hatte eine Zitrone gefunden und
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