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Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
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Piefel.«
    »Ja«, sinnierte Lizra, »das dachte ich mir.«
    Tanaquil badete in einer Wanne, in der sie gut hätte schwimmen können, wäre sie denn des Schwimmens kundig gewesen. Mit Seife gefüllte Jadeenten kreuzten auf dem Badewasser, und ein Fisch bespritzte einen mit warmem Wasser, wenn man ihn kippte. Aus ihrem Schrank wählte Lizra ein Gewand von löwengelber Seide für Tanaquil aus.
    Es war über und über verziert und mit Fischbeinstäbchen verstärkt, genau wie das rote Gewand. »Wir haben dieselbe Größe. Sehr gut. Man achtet hier auf Etikette, besonders beim Dinner. So viele Regeln, genau wie bei der Prozession.«
    Lizra war durch die Stadt gefahren, »um die Leute zu inspirieren«. »Vater behauptet das zumindest«, plauderte Lizra, »aber die Hälfte von ihnen nimmt gar keine Notiz davon. Warum sollten sie auch? Einmal jeden Monat muß ich meine Runde machen. Er kümmert sich nur um die Feste. Es kann einen schon krankmachen.«
    »Was sagt denn deine Mutter dazu?«
    »Meine Mutter ist tot«, erwiderte Lizra brüsk. »Sag jetzt nicht, wie leid dir das tut oder wie schrecklich das ist, denn schließlich hast du sie ja nicht gekannt, und ich eigentlich auch nicht richtig, nebenbei bemerkt. Es passierte, als ich fünf war.«
    Aber Tanaquil wollte auch gar nichts sagen und stellte sich statt dessen ein Leben ohne Mutter beziehungsweise ohne die einzige Mutter, die sie kannte, ohne Jaive, vor.
    »Nun laß uns hinuntergehen, Tanaquil«, schlug Lizra vor.
    »Wird dein Vater nicht wissen wollen, wer ich bin?«
    »Er wird annehmen — wenn er überhaupt eine von uns beiden bemerken sollte -, daß du eine Fürstentochter aus einer anderen Stadt bist, deren Besuch er irgendwann einmal gestattet hat. Das geschieht häufig. Ich finde diese Mädchen meistens hochnäsig oder blöd. Auf der anderen Seite war ich auch einmal mit der Tochter eines Straßenkehrers befreundet, Yilli, die häufig herkam. Ich mochte sie wirklich. Dann versuchte sie eines Morgens, mir die Kehle durchzuschneiden. Sie wollte meinen Schmuck stehlen, den ich sowieso verabscheue. Sie hätte ihn haben können. Seitdem meide ich Freunde.«
    Tanaquil war entsetzt und verspürte einen spontanen, wilden Schwall von Sympathie.
    Sie sah alles deutlich vor sich, die schmerzliche Eifersucht der Straßenkehrertochter, Lizras mutiges, blindes Vertrauen, ihr eigenes Entsetzen, die tiefe Wunde, die dieser Verrat hinterlassen hatte und die sie mit beiläufiger Ironie zu überspielen versuchte. »Manchmal sehe ich sie kurz«, fuhr Lizra mit rauher Stimme fort. »Sie backt Pasteten auf dem Löwenmarkt.«
    Tanaquil durchzuckte der Gedanke, daß sie gut eine dieser Pasteten gegessen haben mochte. »Du meinst, du hast sie laufenlassen?« fragte sie.
    »Nachdem ich sie an den Füßen aus dem Fenster rausgehängt habe.«
    Tanaquil zögerte. »Soll das eine Warnung an meine Adresse sein? Schließlich weißt du rein gar nichts über mich ... «
    »Und?« versetzte Lizra spitz. »Ich denke lediglich, daß ich dich gerne kennenlernen würde; dafür muß ich nichts über dich wissen. Gut, die arme Yilli war mein Fehler.
    Aber man muß Risiken eingehen ...«
    »Ja«, stimmte Tanaquil ihr zu.
    »Hol dein Piefel. Es wird sich über das Essen freuen.«
    Sie begaben sich im Fliegenden Stuhl nach unten zum Bankettsaal. Das Piefel genoß diese Art der Fortbewegung keineswegs, wie ihm auch die Aufwärtsfahrt schon nicht gefallen hatte.
    Mehrere marmorne Treppenfluchten mit breiten Brüstungen durchzogen die fünfzehn Stockwerke des Palastes. Für jede Treppenflucht gab es auch einen Fliegenden Stuhl. Er glich einem Vogelkäfig mit vergoldeten Eisenstäben, in dessen Innern sich eine Polsterbank befand. Man stieg ein, setzte sich und betätigte eine goldene Glocke im Boden des Käfigs. Ihr Klang drang zu den Bedienungsmannschaften im Erdgeschoß und im obersten Stockwerk des Palastes, die sodann begannen, kräftig an den vergoldeten Seilen zu ziehen. Der Käfig funktionierte durch ein Gegengewicht, das vorsichtig hochgezogen wurde, um den Käfig sinken zu lassen, und vorsichtig gesenkt wurde, um den Käfig steigen zu lassen. Wünschte man ins zwölfte Stockwerk zu gelangen, so wurde die Glocke zwölfmal geschlagen und so weiter. Manchmal kam die Anzahl der Glockenschläge falsch an, aber nie sehr falsch.
    Tanaquil selbst liebte die Luftfahrten auf und ab durch die Treppenschächte, wenn geschnitzte Säulen, Balustraden und Fenster in entgegengesetzter Richtung an einem

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