Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Das Mädchen und das schwarze Einhorn

Titel: Das Mädchen und das schwarze Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanith Lee
Vom Netzwerk:
schnitt sie durch und suchte sich Aufhänger, mit denen sie die Kettenglieder befestigen konnte - sie hatte nicht vor, auch nur einen einzigen der Knochen anzubohren und war sich auch gar nicht sicher, ob sie das überhaupt gekonnt hätte.
    Auf dem Boden nahm das Skelett mittlerweile seine wahre Gestalt an.
    Schließlich stellte Tanaquil sich aufrecht hin, um einen besseren Überblick zu gewinnen.
    Manche Teile waren abgebrochen, hier und da gab es Lücken, fehlende Wirbel in dem langen Rückgrat, nicht vorhandene Rippen, und am rechten Vorderbein war eine der spitzen Zehen des Hufs verlorengegangen. Doch sie war in der Lage, alle Verluste in zwar weniger schönem, aber passendem Material wettzumachen, so daß zumindest das Knochengerüst vollständig sein würde.
    Ohne jeden Zweifel konnte sie nun erkennen, daß es sich um das Skelett eines außergewöhnlichen Pferdes handelte - eines Pferdes von außergewöhnlicher Zartheit allerdings, dessen hintere Partie und Beine, Schwanz und Kuppe und auch der Kopf länger als üblich waren, ganz zu schweigen von dem Knochenwulst über den Augen ... Das Skelett sprühte Funken. Es wirkte beinahe freundlich. Und dann, durch irgendeine Veränderung des Sonnenlichts, verwandelte es sich, und ein unbestimmter Schrecken berührte Tanaquil, wie sie es noch nie zuvor verspürt hatte. Ihre Mutter glaubte nicht an Religion oder Priester, doch Tanaquil fragte sich, ob sie Gott irgendein Opfer darbringen sollte. Denn nur der Gott konnte wissen, was dieses Ding einmal gewesen war.
    Das Licht schmolz; die Sonne war untergegangen. Am tiefblauen Himmel begannen die Sterne aufzusteigen, und die Kälte der Nacht atmete draußen am Fenster.
    »Du wirst es hier drinnen schön warm haben«, redete Tanaquil dem Piefel zu. Es schnarchte in seinem selbstgebauten Nest.
    Tanaquil kletterte auf ihren Arbeitstisch und begann, Bronzehaken in den Deckenbalken zu drehen -
    Es klopfte an der Tür. Die Stimme von Vogel, einem der Mädchen, die immer noch hin und wieder zerstreut die Räume der Festung säuberte, drang durch die Türbretter. »Herrin Tanaquil?« Tanaquil konnte sich nicht daran erinnern, Vogels Stimme in den letzten beiden Monaten gehört zu haben. Auch sonst hatte sie sie nirgendwo getroffen. Und in diesem Augenblick war sie alles andere als froh, Vogel zu treffen.
    »Kleinen Moment!«
    Tanaquil rannte zu ihrem Bett, zog die oberste Decke herunter und breitete sie eilig über das Knochengerüst. Dann öffnete sie die Tür. Vogel verbeugte sich, was die Leute aus der Küche, die sie jeden Tag sah, nie taten.
    »Die Herrin, Eure Mutter, hat mir aufgetragen, Euch zu holen.«
    »Was wünscht sie?«
    »Sie hat einen Dämon in ihrem Wachszirkel sitzen. Ich habe ganz schön gekreischt, als ich ihn gesehen habe.«
    »Sie hat immer irgendeinen Dämon in ihrem Zirkel. Warum verlangt sie, mich zu sprechen?«
    »Sie hat nur gesagt, ich solle Euch zu ihr holen.«
    »Es paßt mir gerade überhaupt nicht ...«, sinnierte Tanaquil. Aber wenn sie nicht ging, konnte ihre Mutter gut und gerne heruntergefegt kommen, um sie zur Rede zu steilen. Ein Besuch von Jaive war eine Seltenheit, aber eine Aufforderung, zu ihr zu kommen, nicht minder. »In Ordnung«, gab Tanaquil nach, verließ ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Vogel hatte anscheinend die ausgebreitete Decke nicht bemerkt, ja noch nicht einmal den Federschnee aus dem zerfetzten Kissen oder die Schmierspuren der Speckmahlzeit.
    Sie stiegen die Steintreppe hinauf. Eine hölzerne Frucht löste sich von dem Geländer und trudelte nach unten. Keins der beiden Mädchen zeigte irgendeine Reaktion. In den offenen Treppenabsätzen war es empfindlich kühl; draußen auf den Wehrgängen brannten flache Kohlenpfannen, und die Soldaten sangen Seemannslieder.
    »Du wünschst Jaive zu sprechen?« fragte der Jadekopf an der Tür zu Jaives Zauberreich.
    »Aber ja, wen denn sonst?«
    »Nenne mir deinen Namen und deinen Rang!«
    Doch die Tür mußte überrascht bemerken, daß sie mitten in ihrer Frage von innen geöffnet wurde; sie sah beleidigt aus.
    Vogel gab einen spitzen kleinen Schrei von sich und flitzte die Treppe hinunter.
    Die Wände von Jaives magischem Refugium waren merkwürdig verschleiert, wie von Nebel in einem Wald. Das Zentrum des Raums lag indes klar da, und dort, inmitten des Wachszirkels, von den brennenden Wachskerzen beleuchtet, saß ein Dämon mit zwei Köpfen, Elephantenohren, Froschaugen und einem dicken Bauch, aber ohne Beine, denn er

Weitere Kostenlose Bücher