Das Mädchen und der Schwarze Tod
nicht gut aus – kein Wunder, war er doch in den letzten Tagen oft noch spätnachts auf gewesen, weil er nicht schlafen konnte. Und da der Vater sie im Augenblick genauso bewachte wie sie ihn, bot sich hier die Gelegenheit, ohne Aufsehen aus dem Hause zu kommen. Pest hin oder her – sie musste Küster Krontorp und den Domherren Nikolaus finden.
»Notke gefällt dir, hm?«, hustete Pertzeval, unverhofft das Thema wechselnd. »Kein schlechter Mann. Denkt nach, bevor er einen Zug macht.«
Nun stieg Marike die Hitze ins Gesicht. Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl, ohne dass sie es unterdrücken konnte. Doch sie erwiderte bescheiden: »Er scheint ein guter Mann zu sein, Herr Vater.«
»Ah, er gefällt sehr . Verstehe.« Pertzeval lehnte sich gegen die Rückwand, doch er lächelte nicht. »Ich habe darüber nachgedacht, ein Leumundszeugnis für ihn zu schreiben, wie du gebeten hast.« Marikes Herz schlug so laut, dass sie meinte, man müsse es im ganzen Haus hören. »Das bedeutet jedoch nicht, dass ich den Mann mag. Ich will nur, dass mein dummes Töchterlein nicht unglücklich sein muss.« Marike schaute überrascht auf.
»Denn es ist ganz schön dumm, was du in den letzten Tagen tust.« Marike wurde puterrot. Wusste der Vater von ihren Nachforschungen? Das konnte, das durfte nicht sein! Sie war doch so vorsichtig gewesen, damit er nichts bemerkte!
»Läufst in der Stadt herum, als ob dir nichts geschehen könnte. Sicher, manche Leute denken, sie seien vor der Pest sicher, weil sie reich oder hübsch sind. Das ist dumm. Sehr dumm. Und dich könnte es das Leben kosten, Kind.« Er drohte ihr mit dem Finger. »Ich habe gedacht, du wärst schlauer.« Doch der Blick, der Johannes Pertzevals harsche Worte begleitete, war sanft und fürsorglich. »Aber vielleicht gefällt dem Notke ja deine Dummheit. Manche Männer mögen das.«
Die Kaufmannstochter war hin- und hergerissen zwischen Scham und Freude. Immerhin war ihr Vater ausnahmsweise einmal zugänglicher, was einen Mann für sie anging. Das Geheimnis, das sie vor dem Vater bewahren musste, brannte ihr mehr denn je auf der Seele. Doch sie wusste, ihr alter Herr würde kein Verständnis dafür haben, dass sie dem mutmaßlichen Mörder so vieler Menschen hinterherlief. Die Angst vor der Pest und den Männern, die selbst einen Kaplan erschlagen hatten, begleitete sie stets. Und doch musste sie das alles tun – um Lysekes willen. Und Pater Martins und Bruder Anselmus’ willen.
»Gibt es noch etwas, mein Kind?«, fragte der Vater. Marike wurde sich bewusst, dass sie ihn schweigend angestarrt hatte. Wenn sie ihm etwas sagen wollte, dann doch wohl jetzt. Doch sie wusste nicht einmal, wie sie damit anfangen sollte. Sie schüttelte den Kopf, denn je länger sie schwieg, desto misstrauischer würde er werden. Und damit war auch diese Gelegenheit verstrichen.
»Nein, Herr Vater. Ihr … Ihr sorgt Euch nur immer so viel um mich.« Sie zog den Hocker näher und lehnte den Kopf an seine kantige Schulter. Dabei legte sie kurz die Hand auf die Gewandnadel mit den großen Augen, die ihr inzwischen ganz gut gefiel. »Habt Ihr denn gar keine Angst um Euch selbst?«, wisperte sie dann leise.
Der Vater schüttelte nur den Kopf und schob seinen Unterkiefer vor. »Der Tod schreckt mich nicht, Kind.« Mit dem Ohr an seiner Schulter klang das Pfeifen seines Atems ganz nah. »Mit dem lasse ich es gerne auf ein Tänzchen ankommen. Und selbst wenn er gewinnen sollte, scheue ich mich nicht davor, die Bürde des Fleisches abzuwerfen. Glaub mir, sie ist bisweilen lästig.«
Die Tränen rannen nun frei und ungehindert über Marikes Wangen. Nur mit Mühe gelang es ihr, das Schluchzen zu unterdrücken, das in ihrer Brust lauerte. Sie fürchtete, dass ihre Gefühle hemmungslos aus ihr herausbrechen würden, wenn sie das zuließ. »Ihr habt vermutlich recht, Vater«, presste sie heraus.
»Das Einzige, wovor ich schreckliche Angst habe«, brummelte er dann mit belegter Stimme, »ist, dass ich dich allein lassen müsste. Gott weiß, ich habe erfahren, dass man sein Leben nicht unter Kontrolle hat. Man kann seinen Weg nicht planen, sosehr man das auch möchte.« Er hustete krampfhaft und fuhr fort. »Wenn ich gehe, dann nur, wenn ich ganz sicher weiß, dass du ein langes Leben in Sicherheit und Glück führen kannst.«
Daher also der Sinneswandel bezüglich Notkes! Marike schlang die Arme um ihn. Sie wollte ihn ganz selbstsüchtig festhalten, damit er stets für sie da wäre.
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