Das Mädchen und der Schwarze Tod
Doch bei ihr schlich sich langsam die dumpfe, geistesbetäubende Gewissheit ein, dass der Herrgott die gemeinsamen Tage mit ihrem Vater bereits gezählt hatte. »Aber noch ist es nicht so weit«, murmelte sie leise.
Der alte Mann nickte. »Nein, noch nicht.« Er tätschelte ihren Kopf. »Du solltest jetzt gehen, Kind. Keine Umwege, und keine Fisimatenten. Du gehst direkt zum Haus der Oldesloes, und du kommst direkt zurück. Du willst doch nicht, dass ich vor der Zeit vor Sorge sterbe?«
Marike schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Vater. Das will ich wirklich nicht.« Er durfte nichts davon erfahren, dass sie zum Dom und Sankt Marien wollte, um sich beim Küster nach Domherr Nikolaus zu erkundigen.
Der alte Mann hustete schwer. »Nimm Frederik mit, damit du sicher bist.«
»Vater, das ist nicht nötig, Alheyd kann gut achtgeben auf mich, sie -«
»Alheyd ist auch nur ein Weib. Frederik kann auf dich aufpassen, Marike. Keine Diskussion!«
Alheyd hatte sie noch immer überzeugen können, einen Gang gegen des Vaters Anweisungen zu tun. Doch Frederik war ihrem Vater gegenüber loyal, nicht ihr. Sie hatte sogar den Eindruck, dass der Geselle sie nicht mochte. Ihn würde sie nicht zu einem Umweg überreden können, ohne dass der Vater es erfuhr. Sie verfluchte die Sorgfalt ihres Vaters beinahe.
»Gut, Vater.« Sie musste sich etwas einfallen lassen.
»Gib auf dich acht, mein Stern«, flüsterte Johannes Pertzeval. »Alles wird gut. Ich verspreche es.« Marike küsste ihn auf die Stirn und wollte ihm glauben.
»Wirst du endlich einmal das rote Kleid deiner Mutter anziehen? Sie war darin die schönste Frau von ganz Lübeck.«
»Ich zolle einem Toten meinen Respekt, Vater, das ist kein Nachttanz!«, lehnte sie ab. Irgendwie sträubte sich etwas in ihr, das gute Kleid der Mutter anzuziehen.
Kurz vor Mittag brach Marike mit Frederik auf. Beide hatten sich essiggetränkte Tücher vor das Gesicht gebunden. Der Geruch von Weihrauch hing in den Straßen, denn allerorten versuchte man, die schlechte, pesthaltige Luft auszuräuchern. Mehr und mehr Häuser, in denen sonst fröhlich die Menschen wirtschafteten, waren verrammelt und vernagelt, da die Bewohner sie verlassen hatten. Vor einer Tür lag ein lebloser Körper im reichen Samtkleid. Die Pestkarren kamen mit dem Wegschaffen der Leichen nicht mehr gegen das Sterben an. Ansonsten waren die Straßen Lübecks selbst im Herzen der Stadt wie leer gefegt. Wer konnte, mied belebte Orte. Die Stille über Häusern und Plätzen war beklemmend.
Als eine Tür aufgerissen wurde und ein Nachttopf auf dem Pflaster zerschellte, schreckte Marike zusammen. Dann wurde ein Mann im grünen Seidenwams von der Dienerschaft herausgeprügelt. Marike kannte ihn von den Messen in Sankt Marien – das war der reiche Witwer Theiss! Doch dahinter stand sein Sohn und warf einen zweiten Krug, der seine Hüfte traf und ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Schluchzend sah der alte Mann auf. »Wenn du deine Kinder wirklich liebst, Vater, dann bleib fort! Wir wollen die Pest nicht haben!« Damit schlug der junge Mann die Tür zu.
Marike ging nicht hinüber. »Geht zu Sankt Gertrud«, rief sie hinüber. »Dort kann man bestimmt helfen.« Sein Blick wirkte glasig. Sie hoffte, dass der Mann sie verstanden hatte, und schlug ein Kreuz vor der Brust. Die Pest war allgegenwärtig.
Kurz darauf bogen Frederik und Marike in die Braunstraße ein, jene abschüssige Straße zur Trave hinab, in der einige der ältesten Kaufmannshäuser der Stadt lagen. Marike überlegte gerade, mit welchen Argumenten sie den Knecht auf dem Rückweg wohl zu einem Gang zu Sankt Marien bewegen könnte, da hörte sie ein leises Schluchzen. Sie hielt inne und bat den Knecht mit einer Geste, leise zu sein. Dann lugte sie in den schmalen Gang zwischen zwei Häusern, der zu den dahinterliegenden Fachwerkbuden führte. Darin saß der rothaarige Bube, den Marike schon kennengelernt hatte.
»Felix?«, fragte sie und zog ihr Tuch vom Mund. Der Junge sah auf, und da sah die Kaufmannstochter erst das ganze Unglück: Das Stroh um seine Korbflasche hatte das Steingut nicht geschützt. Sie war zerbrochen. Felix sah elend aus. Sie erinnerte sich noch, wie seine Zahnlücke beim Grinsen zwischen den Lippen hervorgelugt hatte – doch zum Lächeln schien ihm nun nicht mehr zumute. Er war dreckig, noch dürrer als sonst, und die Tränen malten helle Streifen auf seine Wangen.
»’s is’ kaputt«, murmelte er schluchzend und hob das durchweichte Geflecht
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