Das Mädchen und die Herzogin
mit eindringlichen Worten seiner Gemeinde, dass Gewalt und Blutvergießen der falsche, der sündige Weg seien, um zu seinem Recht zu kommen, und Marie wurde immer angstvoller zumute. Und dann, noch vor dem Mittagsläuten, waren Gilgen und seine Brüder und ein paar weitere Männer aus dem Dorf verschwunden, darunter auch ihr Oheim Utz.
Nur eine Woche später, zu Beginn des Erntemonats, traf die Hiobsbotschaft im Schönbuch ein: Der Aufstand des Armen Conrad war niedergeschmettert, bevor es überhaupt zu einer Vereinigung der einzelnen Bauernhaufen im Lande hatte kommen können. Angesichts von Ulrichs Heeresaufmarsch nämlich waren etliche aufständische Ämter umgefallen und hatten wieselflink gehuldigt. So auch Waiblingen im Remstal, das von Ulrich eiligst zum Hauptquartier gegen die nahen Aufständischen berufen worden war. Dort sammelte sich das wirtembergische Landesaufgebot, dort trafen die verbündeten Heere aus der Pfalz und aus Baden, aus Würzburg und Konstanz ein, dorthin eilten Ulrichs letzte Getreue aus dem Adelsstand, wie etwa die fränkischen Ritter Ludwig von Hutten und Götz von Berlichingen oder der Truchsess von Waldburg. Alle waren sie bestens bewaffnet und gerüstet, mit Munition, Karrenbüchsen und Streitrössern reichlich ausgestattet. Von Waiblingen aus wollte man das Heer gegen die Aufrührer am Kappelberg in Stellung bringen. Zu einer Schlacht indessen kam es erst gar nicht.
Angesichts der Übermacht der herzoglichen Regimenter war der Widerstand der Bauern rasch zusammengebrochen. Unter der Zusage freien Geleits händigte ein Großteil des gemeinen Mannes seine Waffen aus, die Übrigen flohen überdie Landesgrenze oder wurden gefangen genommen. Tags darauf war auch der letzte unbeugsame Rest der Aufständischen besiegt, in einem diesmal blutigen Kampf vor den Toren Schorndorfs. Wer nicht fliehen konnte, wurde gefangen gesetzt, die Häuser der Aufrührer waren noch am selben Tag geplündert und dem Erdboden gleichgemacht worden, die Einwohnerschaft hatte dem Herzog demütig und untertänig gehuldigt.
All das erfuhr Marie in der Pfarrstube, in die der Lange Gilgen gestürmt kam, gerade während ihrer frühmorgendlichen Schulstunde. Mit aufgerissener Schulter und verschrammtem Gesicht war er in ihre Schreibübungen geplatzt, um dem Pfarrer Bericht zu erstatten, erschöpft und außer sich: Es sei alles zu Ende, alle Mühen der vergangenen Monate umsonst. Im letzten Moment noch habe er den Schergen vor Schorndorf entkommen können, auf einem gestohlenen Söldnerpferd, auf dem er die ganze Nacht hindurch geritten sei. Wo seine Brüder, wo Utz und die anderen aus dem Dorf geblieben waren, vermochte er nicht zu sagen.
«Was ist mit Vitus? Hast du ihn gesehen?» Marie umklammerte seine Hand. Sie zitterte am ganzen Leib.
«Vitus?» Müde sah Gilgen sie an. In seinen Augen glänzte das Fieber. «Den haben sie weggeführt. Tut mir leid, Marie.»
Sie brach in haltloses Schluchzen aus. Muthlein sprang auf und nahm sie in die Arme, wiegte sie wie ein kleines Kind.
«Beruhige dich. So Gott will, wird ihm nichts geschehen. Und du, Gilgen, gehst sofort zur Häcklerin. Nicht dass dir der Brand in die Schulter schlägt.»
Am selben Abend noch packte Marie heimlich ihr Bündel. Keinen Tag länger würde sie in dieser Ungewissheit verharren können. Sie hatte beschlossen, sich im Morgengrauen demalten Schladerer und dessen Knecht anzuschließen, die nach Schorndorf ziehen wollten, um Gilgens Brüder ausfindig zu machen – und gegebenenfalls loszukaufen, denn an Geld und Gold mangelte es dem Alten nicht.
Keinen Atemzug lang schlief sie in dieser Nacht, um ja den Aufbruch nicht zu verpassen. Aber die Schreckensbilder, die ihr vor Augen standen, hätten sie ohnehin keinen Schlaf finden lassen. Mal sah sie Vitus in Ketten im Kerker liegen, mal mit von Rutenstreichen aufgerissenem Rücken am Pranger stehen, dann, wie er zur Richtstätte geführt wurde. Zwei-, dreimal glaubte sie ein Schluchzen zu hören, aus der Richtung, wo Berthes Strohsack lag. Ob ihre Muhme tatsächlich weinte um ihren Mann? Hatte sie am Ende doch ein Herz?
Wie aus einem Fiebertaumel erhob sie sich, als die ersten Vögel zu singen begannen. Im Dunkel bückte sie sich nach ihrem Bündel, das sie unter dem Betttuch versteckt hatte, und schlich zur Tür. Gerade als sie so leise wie möglich den Riegel zurückschob, schlug ihr jemand schmerzhaft gegen den Hinterkopf. Mit einem Aufschrei fuhr sie herum. Vor ihr stand Berthe, das Gesicht
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