Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
als käme ich von einem anderen Planeten. »N ein! Sag bloß, das war doch sicher sehr gefährlich! Gibt es im Dschungel nicht Krokodile und Riesenschlangen und Piranhas?« Mit weit aufgerissenen Augen erwarteten sie eine ernsthafte Antwort auf eine derart dämliche Frage. Natürlich gab es die! Aber gab es hier nicht auch Autos und Lastwagen auf den Straßen, die bedrohlich schnell fuhren? Und hieß das etwa, dass man absichtlich in die hineinrannte, damit man überfahren wurde? Ich sollte erzählen, wie weit der Amazonas vom Rhein oder von der Spree entfernt war. Ob man besser mit dem Flugzeug flog oder mit dem Schiff dorthin fuhr. Als ob ein Kind so etwas beantworten könnte. »U nd wie war das im Dschungel? Gab es dort auch Affen?« Einen Augenblick lang zögerte ich, dann erzählte ich, dass Affeneintopf meine Lieblingsspeise gewesen sei. Ich fand nichts Verwerfliches daran. Die eben noch so nette Dame verdrehte angewidert die Augen und wäre fast in Ohnmacht gefallen. Und war im nächsten Moment überzeugt davon, dass ich ihr einen Bären aufgebunden hatte. Egal, ob wohlwollend, übertrieben neugierig oder irritiert – die Reaktionen unseres Umfelds auf unser Leben im Urwald unter Indianern waren mir suspekt. Ich wusste nicht, was die Menschen von mir erwarteten, und fühlte mich zunehmend beobachtet und begafft wie ein exotisches Tier.
Deshalb beschloss ich, nie wieder mit jemandem über meine Zeit im Urwald zu reden. Ich wollte mir nicht länger anhören, wie Indianer als »W ilde« bezeichnet wurden oder gar als »K annibalen«. Es stimmte einfach nicht, dass sie »s plitternackt« herumliefen, und ich weigerte mich zu demonstrieren, wie man mit »b loßen Händen fraß«. Indianer fraßen keineswegs, im Gegenteil, sie hielten sich weitaus stärker zurück als die Erwachsenen hierzulande, die oftmals mehr aßen und tranken als ihnen guttat. Am Amazonas hatte ich jedenfalls keinen einzigen Übergewichtigen mit Kreislaufbeschwerden und Bluthochdruck gesehen. Andere wiederum verklärten die Indianer zu edlen Wilden, die in ewiger Harmonie leben. Dem war nun auch nicht so. Es machte mich fassungslos und manchmal auch wütend, wie wenig Ahnung die Leute hatten. »E rzähl der Tante doch mal vom Urwald, Cathrinchen. Davon, wie schön du mit deinen Freundinnen im Fluss gebadet hast«, ermutigte mich meine Mutter, als eine ihrer Bekannten mehr über unser altes Leben erfahren wollte. Doch meine Lippen blieben versiegelt. Stumm wie ein Fisch. Ich wollte mich nicht länger vorführen lassen, auch wenn hinter dieser Aufforderung ganz sicher keine böse Absicht gestanden hatte. Es war auch nicht so, dass ich nicht länger das »M ädchen vom Amazonas« sein wollte. Das blieb ich weiterhin. Noch Jahre später fühlte ich mich in Deutschland, als hätte man mich an den falschen Ort verpflanzt. Ich gehörte einfach nicht hierher.
Äußerlich passte ich mich bald an, so wie alle Kinder, die bemüht sind, nicht aufzufallen, wenn sie in ein neues Umfeld kommen. Schon bald sah ich so aus wie alle anderen. Innerlich blieb jedoch eine beklemmende Distanz. Es war, als nähme ich diese neue Welt durch eine Glasscheibe wahr, durch die sich zwar alles klar erkennen ließ, die mich aber dennoch von allem trennte. Ich war und blieb auf der anderen Seite, eine Fremde in der neuen, kalten Heimat.
Das lag natürlich nicht nur an der neuen Umgebung, sondern auch am Lebensrhythmus und den Wertvorstellungen, die hier hochgehalten wurden. Die Menschen in Deutschland besaßen so viel mehr als die Aparai. Ein eigenes Haus oder eine Wohnung, in der selten mehr als vier Menschen zusammenlebten, einen Garten vielleicht, der durch einen schnurgeraden Zaun von dem des Nachbarn abgetrennt war. Autos, Fahrräder, Kleidung, Möbel, Fernseher, Bücher und vieles mehr. In meinen Augen waren alle Menschen in Deutschland unermesslich reich. Und dennoch schien etwas zu fehlen, auch wenn ich als Kind nicht benennen konnte, was es war. Die Menschen kamen mir irgendwie unzufriedener vor, weniger fröhlich und schon gar nicht frei. Während am Amazonas kein Tag verging, an dem die Menschen nicht miteinander lachten, begegneten einem die meisten Menschen in Deutschland mit verschlossenen Gesichtern. In meinen Augen wirkten viele egoistisch, niemand schien wirklich gerne zu teilen, jeder war bemüht, so viel wie möglich anzuhäufen und alles für sich zu behalten. Und obwohl alle einigermaßen gut über die Runden kamen und keiner an Hunger litt, schien es
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