Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
große Unterschiede zu geben. In der neuen Welt war das Kind eines Anwalts, eines Arztes oder eines Bankiers ganz offensichtlich mehr wert als das Kind einer Putzfrau oder eines Bauarbeiters. Ein Junge aus meiner Schule wurde gehänselt, weil er nur zwei Cordhosen besaß, die er im Wechsel trug, und mit dem abgegriffenen Ranzen seiner älteren Brüder in den Unterricht kam. Wohingegen ein Mädchen mit akkuratem Pagenschnitt die Nase bemerkenswert hoch trug, weil ihre Eltern Bedienstete hatten und sie von ihrer Mutter in einem teuren Auto zur Schule kutschiert wurde. Irgendwie tat sie mir leid, weil sie nicht einmal mit den anderen Kindern gemeinsam zur Schule laufen durfte. Im Urwald gab es keinen, der sich für etwas Besseres hielt oder es nötig gehabt hätte, den anderen zu beweisen, dass sie weniger wert waren.
Trotz meiner Schwierigkeiten knüpfte ich bald Freundschaften, lernte Menschen kennen, die zu Vertrauten wurden. Einigen bin ich bis heute verbunden. Doch eine ähnliche Freude und Unbefangenheit im Umgang wie mit Antonia und Araiba, Tanshi, Sylvia, Mikulu, Koi, Malina und all den anderen wollte sich nicht so recht einstellen. Dazu war die Welt, in der ich mich nun bewegte, zu bedrückend. Anstelle von Ermutigungen hagelte es Verbote, gab es Regeln, die man befolgen musste, auch wenn sie in meinen Augen überhaupt keinen Sinn machten. »B etreten der Rasenfläche verboten!«, bellte ein Schild im städtischen Schlosspark. Weshalb gab es denn einen Rasen, wenn man nicht auf ihm laufen durfte? Ich wurde sogar verpetzt, als ich ihn dennoch einmal betrat. Noch dazu barfuß und im Herbst. Im Urwald hatten wir Kinder alle Freiheiten genossen, der Respekt und die Unterstützung der Erwachsenen waren uns sicher gewesen. Es hatte keine Pflichten gegeben und keine direkten Verbote, eher Empfehlungen. Wir wurden geführt, aber nicht »e rzogen«.
Noch heute mag ich das Wort erziehen nicht, weil es bedeutet, dass man so lange an einem Kind herumzerrt, bis die Erwachsenen es für richtig befinden. Eltern, Lehrer, die Gesellschaft. Ein Kind ist aber kein Kaugummi, den man nach Belieben ziehen und anschließend in eine Form pressen kann. Auch kein Papagei, dem man vorgibt, was er artig nachzuplappern hat. Kinder haben ihren eigenen Kopf. Ich fand es furchtbar, dass ich in Deutschland meinen eigenen Willen dem anderer unterzuordnen hatte. In Mashipurimo hatte ich mit dem Essen aufhören dürfen, wenn ich satt war. In Deutschland musste man den Teller leer essen, selbst wenn einem danach schlecht wurde. Gekrönt von dem Spruch, dass andernfalls am nächsten Tag die Sonne nicht scheine. Im Urwald hatten wir in Begleitung anderer Kinder alleine schwimmen gehen, im Wald auf Bäume klettern und mit Pfeil und Bogen schießen üben dürfen. In Deutschland schienen Kinder rein gar nichts zu dürfen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Erwachsene bestimmten und entschieden über alles, als hätten Kinder überhaupt keine Rechte.
Als wir einmal auf der Anliegerstraße vor unserem Haus Brennball spielten, schrie uns ein Nachbar an, wir sollten das gefälligst lassen.
»H ört sofort auf damit, hört ihr?«
Erschrocken ließen wir den Ball fallen. »A ber warum denn?«, fragte ich irritiert. »W ir machen doch gar nichts Schlimmes!«
»W eiiiil iiiich das saage!«, brüllte der Mann nunmehr mit puterrotem Kopf, da ich es gewagt hatte, seine Anweisung vor den anderen Kindern zu hinterfragen. Offenbar hatte er Angst, dass sein neues Auto eine Beule abbekam, dabei hatten wir weit genug davon entfernt gespielt.
Betroffen über den rüden Ton und das unsinnige Verbot ging ich nach Hause. Alles, was Spaß machte, schien hier verboten.
Ein anderes Mal wollte ich mit einigen Kindern aus der Nachbarschaft an einem Hochsommertag ins örtliche Schwimmbad gehen. Die Eltern hatten jedem ein paar Markstücke mitgegeben, genug für den Eintritt und eine Limonade. Doch die Badeanstalt war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, und alle machten betrübte Gesichter. Da ich es bisher gewohnt gewesen war, selbständig Entscheidungen zu treffen, nahmen wir kurzerhand die nächste Straßenbahn und fuhren ein paar Stationen zu einem kleinen Hallenbad, das wir vom Schwimmunterricht unserer Schule kannten. Schon oft waren wir die Strecke mit unserer Lehrerin gefahren. Artig zahlten wir unseren Eintritt, wir schwammen, duschten, trockneten uns ab und fuhren wieder heim. Ein schöner Tag. Dachte ich zumindest. Bis es am Abend wütende Anrufe unserer
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