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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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Nachbarn hagelte. Sie schimpften und beschwerten sich darüber, dass wir es gewagt hatten, allein und ohne Aufsicht von Erwachsenen in das weit entfernte Schwimmbad zu fahren. An all dem sei einzig und allein ich schuld; ich hätte die anderen Kinder überredet, so etwas Unerhörtes und Verantwortungsloses zu tun. Einige Eltern verboten ihren Kindern daraufhin sogar, künftig mit mir zu spielen. Meine Eltern ertrugen die Vorwürfe mit Fassung. Nur eine einzige Nachbarin hatte die Reaktionen der anderen lächerlich und überzogen gefunden und mich sogar ausdrücklich für mein vorbildliches Verhalten gelobt. Ihre Tochter hatte ihr erzählt, dass ich fast die ganze Zeit am Beckenrand verbracht hatte, um aufzupassen, dass nichts passierte. Ich hatte mich genau so verhalten, wie ich es im Urwald gelernt hatte.
    Ich muss damals ungefähr acht oder neun Jahre alt gewesen sein, und die hysterischen Reaktionen der Nachbarn versetzten mir einen tiefen Schock. Ich fühlte mich wie ein Nagel in einem Holzbrett, den man immer weiter hineinschlug, bis er vollkommen verschwunden war. Nur nicht aufmucken, nur nichts machen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Sich nur nicht gegen die auflehnen, die vermeintlich über einem standen, sonst bekam man eins übergebraten. Selbständiges Denken und Handeln waren nicht gefragt, immer schön in der Reihe bleiben. Wer sagte, was er wirklich dachte, galt schnell als rebellisch oder wenigstens als unbequem. Spätestens nach dem Schwimmbadausflug begriff ich, dass sich Kinder in Deutschland auf einem Minenfeld von Verboten und Regeln bewegten; die Regeln gaben diejenigen vor, die sich kaum noch in Kinder hineinversetzen konnten. Im ständigen Bemühen, nichts falsch zu machen, nicht anzuecken, die Vorgaben der Erwachsenen zu erfüllen, verlernten die Kinder, auf ihre innere Stimme zu hören und sich auf ihre eigenen Stärken zu besinnen. Heute sind es eher die Eltern, die verlernt haben, auf ihre innere Stimme zu hören und Halt suchen bei Ratgebern und Experten.
    Nicht lange nach unserer Rückkehr begann für mich mit der Einschulung der »E rnst des Lebens«. Während der ersten Schuljahre brauchte ich nur aus dem Fenster des Klassenzimmers im ersten Stock zu schauen, in die Baumkronen der alten Kastanien, deren Blätter sanft im Wind wehten, um an den Urwald zu denken. In meiner Wahrnehmung wurden die Sätze unserer Lehrerin, die unermüdlich dozierte, leiser und leiser, bis ich kein Wort mehr davon vernahm. Der Anblick des grünen Laubs versetzte mich in eine andere Welt – das Rauschen der großen Stromschnelle von Mashipurimo drang an mein Ohr, ich hörte das Gelächter von Tanshi, Koi und Sylvia. Ich lief mit ihnen durch das Dorf, planschte im Fluss herum und lauschte dem Knistern des großen Abendfeuers. Ich hoffe, dass mir meine Lehrerin die Tagträumereien inzwischen verziehen hat. Doch ohne die Erinnerung an den Urwald wäre ich in der neuen Heimat verwelkt wie eine Blume, die nicht mehr genug Licht und Wasser bekommt. Diese Gedankenausflüge gehörten nur mir. Sie waren wie ein verborgener Garten, den niemand außer mir betreten konnte. Umgeben von einer hohen Mauer, die alles beschützte, was sich im Innern befand. In meinen Tagträumen wünschte ich mich in die Welt meiner Aparai-Familie zurück und füllte meine innere Leere mit der Erinnerung an jene Geborgenheit, die unter den Aparai so selbstverständlich gewesen war.

    In meinen Tagträumen bin ich in Mashipurimo
     
    Oft riss mich erst der schrille Ton der Pausenklingel aus meinen Gedanken. Endlich durften wir aufstehen, uns bewegen – das stundenlange Stillsitzen fiel mir furchtbar schwer.
    Ich lernte, dass man in der Schule gute Zensuren brauchte, auch wenn einen das, was dort gelehrt wurde, nur in Ansätzen weiterbrachte. Lesen und Schreiben fand ich prima, alles andere erschien mir teilweise wie die reinste Zeitverschwendung. Die monotone Paukerei im Klassenzimmer bereitete uns nicht wirklich auf das Leben vor.
    Was aber war das echte Leben? Nach außen Harmonie heucheln und jeden Samstag den Bürgersteig kehren, während drinnen der Haussegen schief hing und pausenlos der Fernseher lief? Ein teures Auto fahren, um zu zeigen, dass man es geschafft hatte? Sich kaputt arbeiten, um immer mehr und mehr zu besitzen, nur um anschließend alles einsperren und mit einer Alarmanlage schützen zu müssen? Im Gegensatz zu den Männern der Aparai, die sich nach ihrer Heimkehr von der Jagd liebevoll um ihre Babys kümmerten, die

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