Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
hatte die Form eines Urwaldungeheuers, einer der mythischen Tierfiguren, über die die Alten Geschichten am Lagerfeuer erzählten. »W as für ein schönes Kunstwerk«, dachte ich, ohne dessen Funktion zu erahnen.
»P ssst, da sind Irako drauf«, raunte mir Koi zu, die unauffällig zu mir vorgerückt war.
»I rako?« Ich zuckte zusammen. Irako waren extrem gefährliche Ameisen mit einem Giftstachel. Wer das Pech hatte, von ihnen gestochen zu werden, konnte hohes Fieber bekommen. Im Gegensatz zu den harmlosen Maikwattos, diesen kleineren Durchschnittsameisen, die sich mit Vorliebe über unsere Essensreste hermachten, waren die Viecher wirklich bedrohlich. Fanden wir eine größere Ansammlung von ihnen in der Nähe unseres Dorfes, mussten wir das unverzüglich den Erwachsenen melden.
Ich musterte die kunstvoll geschmückte Matte genauer – und tatsächlich: Bei den dunklen Flecken und Pünktchen handelte es sich um eine beachtliche Zahl von Ameisen und Wespen, die die Frauen lebendig in die Martermatte eingewoben hatten. Nach einem Tauchbad in einer Wasserschale waren die Insekten kurzzeitig betäubt. In dieser Zeit galt es, sie rasch einzuweben, da sie bald umso aggressiver zustechen würden.
Auf einmal ging alles ganz schnell. Sanft drückte Antonia die Matte mit den eingewebten Insekten auf den Rücken ihres Enkelsohns und zog sie gleich wieder zurück. Beim zweiten Mal drückte sie fester. Und fester. Und länger. Ich meinte zu bemerken, dass Inaina zwischenzeitlich die Luft anhielt. Gespannt beobachtete ich jede Regung in seinem Gesicht, doch es war beim besten Willen nicht auszumachen, was er empfand. Kein Laut. Nicht mal ein kurzes Zucken. Nach wie vor ruhten seine Hände vollkommen entspannt auf den Knien. Vermutlich biss er die Zähne zusammen, um nicht loszuschreien. Wie schaffte er das nur, so gelassen zu wirken?
Aufmerksam verfolgten die Zuschauer die schmerzhafte Prozedur. Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Eine weitere Matte wurde Antonia von den Frauen gereicht. Sie enthielt, das erzählte mir Sylvia später, zappelnde gestreifte Wespenkörper und hatte ebenfalls einen bunten Rahmen aus flauschigen Federn. In ihrer Form glich sie einem doppelköpfigen Kaikuschi, einem mythischen Hund oder Jaguar, wenn man es genau nehmen möchte. Diese Matte stand also für Mut und Kraft.
Martermatte mit eingewebten Insekten
Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, welche Qualen Inaina durchlitt, als er von Dutzenden Feuerameisen und Wespen gleichzeitig in den Rücken gestochen wurde. Verzweifelte Insekten im Kampf gegen den Erstickungstod auf menschlicher Haut. Wer weiß, wie schmerzhaft ein einziger Wespenstich ist, kann sich vorstellen, was der arme Inaina, damals nicht älter als dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre, bei seiner Initiationsmarter aushalten musste. Bis zum Schluss verzog er keine Miene. Nur ein einziges Mal musste er tief durchatmen.
Antonia trat ein paar Schritte zurück, und nach einer kurzen Pause drückte nun eine Frau nach der anderen eine Martermatte auf Inainas Rücken. Einige pressten ihre Matten nur kurz und vorsichtig auf seine Schultern. Die alte Peputo drückte dafür umso länger und machte damit vermutlich auch das letzte zappelnde und stechwütige Insekt auf dem Rücken des jungen Mannes platt. Ich beschloss, Inaina nie wieder einen »S chönling« zu nennen. Fortan war er für mich Inaina, der Tapfere.
Die Wespen- und Ameisenmarter wurde nur wenige Male und zu besonderen Anlässen im Leben eines Aparai wiederholt, um den jeweils nächsten Lebensabschnitt einzuleiten. Das erste Mal ungefähr im Alter von sechs bis sieben Jahren, das letzte oder vorletzte Mal mit etwa 45 Jahren, dem Eintritt ins Alter. In Ausnahmefällen und auf besonderen Wunsch gab es noch eine letzte Marter danach. Die Abschlussmarter. Bei ihr wurde eine ganz besondere Matte eingesetzt: Okoimomano, die schlangenförmige Martermatte. Anstelle der vielen einzelnen Matten wurde ein beinahe zwei Meter langes Geflecht in Form einer Schlange Abschnitt für Abschnitt auf den Rücken des Alten gedrückt. Diese Art der Marter kenne ich aber nur aus den Erzählungen der alten Peputo, deren inzwischen verstorbene Mutter die Letzte im Dorf gewesen war, die eine solche Marter über sich hatte ergehen lassen.
Bei der Kleinkindmarter hingegen wurden nur ungefährliche Ameisen auf Miniaturmatten verwendet. Ganz winzige gelbe Tierchen, die mehr kitzelten, als dass sie ernsthaft zubissen.
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