Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
mit dem Pfeil geschossen?« Inaina war vollauf mit dem Kauen eines zarten Schenkels beschäftigt. Das Fett troff ihm über die Finger und an den Mundwinkeln hinab. Beide Backen prall gefüllt, glich er den Barockengeln, die ich mit meinen Eltern in Belém in einer alten Kirche gesehen hatte. Die Kräntis, wie die Aparai die Christen nennen, glaubten an Engel und an Heilige, während die Aparai an Naturgeister und die Geister der Ahnen glaubten. Vielleicht waren diese Engel aber gar nicht so anders als unsere Jolokos, überlegte ich, während ich weiter auf Inainas Backen starrte.
»M it einem Pfeil habe ich den Affen getroffen«, sagte Inaina, als er endlich wieder sprechen konnte. »A ber nur, weil ich Munition sparen wollte, unsere Vorräte sind nämlich fast aufgebraucht.« Araiba tat, als hätte er die letzte Bemerkung überhört. Wohlwollend betrachtete er seinen stattlichen Enkel, dessen kinnlange Haare sich wie ein Rahmen um seine Wangen legten. »G enau wie dein Vater«, sagte Araiba glücklich. »M öge er in Frieden in Schipatei jagen. Er konnte sehr gut mit Pfeilen schießen, das können heutzutage nicht mehr viele von uns.« Giftpfeile wurden schon damals nur noch in Ausnahmefällen benutzt, doch bei der Affenjagd hatten sie den Vorteil, dass sie fast lautlos durch die Luft glitten. Während das Donnern eines Schusses sämtliches Wild in die Flucht schlug.
Nach dem Essen bot Araiba seinem Enkel eine selbstgedrehte Zigarre an. Ich staunte. Das hatte er noch nie gemacht. Tagelang flatterten die trockenen Tabakblätter wie Girlanden vor Araibas Hütte im Wind, bis sie verwelkt und schrumpelig waren. Eng zu einer daumendicken Rolle zusammengepresst, ergaben sie eine stattliche Zigarre. Paffend zogen sich die beiden Männer zu einer Unterredung zurück. Als ich hinterherlaufen wollte, hielten Sylvia und Antonia mich mit sanftem, aber bestimmtem Griff an der Schulter zurück. »P scht, Katarischi«, raunten sie mir zu. »B leib hier, das ist ein Gespräch unter Männern.«
Inaina hustete ein paar Mal gequält, während ihm Araiba aufmunternd auf die Schulter klopfte. Ein richtiger Mann muss anständig rauchen können. Ohne zu husten. Sylvia schaute mich mit fragendem Blick an und hielt sich die Nase zu. Der Gestank, der zu uns herüberwehte, war wirklich zum Schlechtwerden. Gut, dass Mädchen so etwas nicht machen mussten.
Junge Aparai-Wajana posieren vor der Kamera
Ungefähr von diesem Tag an veränderte sich Inaina. Es war, als ob er sich auf etwas vorbereitete, wenngleich ich mir nicht vorstellen konnte, was das sein sollte. Er verwandelte sich von einem fröhlichen Teenager zu einem ernsthaften jungen Mann, machte weniger Scherze, sprach seltener mit uns Kindern und verabredete sich stattdessen immer häufiger mit den jungen Männern der anderen Dörfer an der unteren Stromschnelle, um sich »a bzuhärten«. Erst später erfuhr ich, was dahintersteckte. Inaina stählte seine Nerven, indem er in einem Boot stehend eine Stromschnelle hinunterfuhr. Der einzige Halt bei dieser waghalsigen Aktion war eine Ruderstange. Es war eine Mutprobe, die die jungen Männer im schlimmsten Fall mit dem Leben bezahlten. Oder mit schweren Verletzungen. Im besten Fall demonstrierten sie durch so eine Fahrt Mut, Ausdauer und Geschicklichkeit. Und das steigerte nicht nur ihr Ansehen, sondern trug auch zu ihrem Wert als künftigem Ehemann bei.
So eine Stromschnellenfahrt mit dem Kanu ist vergleichbar mit dem, was junge Surfer an den besten Stränden der Welt machen, wenn sie sich zum ersten Mal vor den neugierigen Blicken anderer einer Monsterwelle stellen. Entweder sie gehen unter, oder sie schaffen es, einigermaßen heil hindurchzukommen. Inaina wirkte ruhig und konzentriert, und falls er Angst hatte, ließ er sich das nicht anmerken. Was ihm auf der Seele lag, machte er ohnehin meistens mit sich aus.
Als wir eines Tages nach einem Bootsausflug flussaufwärts in Richtung Mashipurimo fuhren, wurden wir Zeugen einer solchen Mutprobe. Jackä, ein Tirio-Indianer, hatte uns begleitet. Er war einer der wenigen seines Stammes, die mit den Aparai eine intensive Freundschaft pflegten. Auch in Mashipurimo war er ein gern gesehener Gast, obwohl die Tirio noch vor gar nicht allzu langer Zeit nicht zu den engsten Freunden der Aparai gezählt hatten. In alter Zeit hatten sie sogar Kriege gegeneinander geführt. Jackä sprach ein ganz passables Niederländisch, da er lange in einem Indianergebiet in Surinam gelebt hatte. Mein Vater
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