Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
Vom Netzwerk:
ganz woanders, während Sylvia und ich fröhlich weiterplapperten. Die Baumwollspindel aus einer Kalebassenscheibe, die ein Stäbchen aus schwarzem Hartholz umschloss, drehte sich unentwegt in Großmutter Antonias zerfurchten Händen. Die Spindel surrte hoch und runter, hoch und wieder runter, bis ein feiner Faden zwischen Antonias Fingern entstand. War er gleichmäßig und lang genug, wurde er aufgerollt, und der nächste Baumwollbausch kam an die Reihe. Die Prozedur wurde so lange wiederholt, bis so viele Spindeln voll waren, dass man aus den Baumwollschnüren eine Kindertrage, eine Hängematte, einen Gürtel oder was sonst gerade gebraucht wurde, knüpfen konnte.
    Inaina klopfte unterdessen mit den Füßen einen Takt auf den Lehmboden. Abwesend spielten seine Finger mit einem Stück des abgerissenen Fadens. Vermutlich ging er in Gedanken noch einmal die abenteuerliche Fahrt an der Stromschnelle durch. In den kommenden Wochen zog er sich noch mehr zurück, und wir sahen ihn nur selten.

    Kleinere Stromschnelle in der Nähe von Mashipurimo
     
    Inainas Reifeprüfung
     
    Eines Tages bemerkte ich eine Ansammlung von Menschen vor Antonias und Araibas Hütte. Darunter entdeckte ich auch Gesichter, die ich nur von Besuchen aus den Nachbardörfern kannte. Was war da los? Ein Fest? Davon hatte mir Antonia gar nichts erzählt. Neugierig kam ich näher. Endlich sah ich Sylvia unter den vielen Menschen. Sie machte ein todernstes Gesicht. So kannte ich sie gar nicht. Sachte schob sie mich in Richtung der Hütte, die mit geflochtenen Palmblättern verhängt, also nicht offen war wie sonst. Sylvia bedeutete mir zu warten und verschwand sogleich wieder zwischen den umherstehenden Menschen. Aus dem Innern der Hütte drang Gemurmel, hin und wieder hörte ich einen spitzen Schrei. »A u, jetzt hat sie mich gestochen!« Und noch mal »A u!« Angestrengt linste ich durch die Löcher in den Palmblättern, und tatsächlich, nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit im Innern der Hütte gewöhnt hatten, konnte ich die Umrisse von Antonia, Pulupulu, Malina, Peputo und ein paar anderen Frauen ausmachen. Sie hockten im Kreis auf dem Boden und beugten sich angestrengt über etwas, das ich beim besten Willen nicht erkennen konnte. Wieder ertönte ein schmerzhaftes »A autsch!« Was immer sie machten, es musste ordentlich wehtun. Zumindest klang es danach.
    Endlich nahm mich Sylvia an der Hand und schob mich durch die Menschenmenge, in deren Mitte Inaina hockte. »H allo, Inaina«, sagte ich leise. Doch er schien mich gar nicht zu bemerken. Das Bänkchen, auf dem Inaina saß, war wunderschön, wenn auch nicht so außergewöhnlich wie die Tierbänkchen mit ihren geschnitzten Köpfen, auf denen nur alte Männer Platz nehmen durften. Es war einfacher gearbeitet, aber mit bunten Mineralfarben bemalt. Die doppelköpfige Raupe Samarare setzte sich braunrot vom helleren Holz ab. Diese Riesenraupe war umrandet von schwarzen Linien aus Rußfarbe und eingefasst mit feinen, weißen Pünktchen aus Kalk.
    Plötzlich wurde der Palmblättervorhang der Hütte zur Seite geschoben, und Großmutter Antonia trat heraus. Die anderen Frauen folgten. Ihre Gesichter wirkten wie versteinert. In den Händen balancierte Antonia vorsichtig einen Gegenstand, als handelte es sich um etwas Zerbrechliches oder gar Gefährliches. War das ein Änöpom, ein Feuerfächer?
    Erst jetzt bemerkte ich, wie festlich Inaina gekleidet war. Er trug einen langen, roten Feiertagslatz mit einem prächtigen Perlengürtel darüber. Die feinen Beinfransen an seinen Waden reichten fast bis auf den Boden hinab. Und seine Haut glänzte wie frisch geölt. Auf seinem Kopf thronte das Federkränzchen mit dem Kolibrianhänger. Inaina war herausgeputzt wie ein Felsenhähnchen, und dennoch wirkte er fast demütig und ernst und nicht so vergnügt wie sonst, wenn ein Fest veranstaltet wurde. Inaina saß auf seinem Bänkchen, die Augen gesenkt, die Hände auf den Knien, als würde er meditieren. Auf einmal nickte er leicht. Beinahe unmerklich.
    Großmutter Antonia stellte sich hinter ihn und murmelte etwas, das ähnlich klang wie die Schutzformeln, die sie über unser Essen sprach. Dann hielt sie kurz den ominösen Gegenstand in die Höhe: eine geflochtene, mit bunten Federn verzierte Matte, besprenkelt mit unzähligen schwarzen Pünktchen. Die kleinen Federn waren in Streifen und Mustern um das Matteninnere arrangiert. Hellblau, rot und weiß, unterbrochen von schwarzen Streifen. Die gesamte Matte

Weitere Kostenlose Bücher