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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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Nachdem ich gesehen hatte, wie heftig die Marter war, die den Schritt vom Jugendlichen zum Mann markierte, mochte ich mir gar nicht ausmalen, wie die nächste Stufe aussah. Heute weiß ich, dass die traditionelle Initiation in die Welt der Erwachsenen die heftigste aller freiwilligen Folterarten war. Die Quälerei sollte die jungen Männer für zukünftige Aufgaben rüsten. Weichlinge wurden durch die Marter zu guten Jägern und Fischern gemacht, zu mutigen Männern. Bei den Aparai wurden auch Mädchen gemartert, allerdings bei Weitem nicht so schlimm und schmerzhaft wie die Männer. In ihrem Fall diente die Marter dazu, aus ihnen vorbildliche und fleißige Frauen zu machen. Es war eine Prozedur, die kräftigen und abhärten sollte, um Schmerzen zu ertragen und um mit Entbehrungen und Verletzungen besser zurande zu kommen.
    Der Überlieferung nach wurde das Marterfest zu Ehren der Webervogelmenschen abgehalten. So erzählte es uns Großmutter Antonia später. Ich mochte die langgestreckten Nester der Webervögel, die wir aus den Zweigen pflückten, wenn sie verlassen in den Bäumen hingen. Und ich versuchte mir vorzustellen, wie die Webervogelmenschen vor langer Zeit den Aparai den Auftrag zur Ameisen- und Wespenmarter überbracht hatten. Kois Vater Kulapalewa hatte schon einmal eine Geschichte darüber erzählt. Und ich beschloss, beim nächsten Mal genauer hinzuhören.
    Als sich die Menschenmenge auflöste, blieb Inaina noch eine Weile sitzen. Regungslos. Bis Antonia, Araiba und Sylvia ihm schließlich aufhalfen. Araiba streichelte seinem Enkel kurz über den dichten Haarschopf und tätschelte ihm liebevoll die Wangen: »J etzt bist du gegen alles gefeit.«

    Schlangenmatte für die letzte Marter
     
    Nach der Marter bekam Inaina hohes Fieber und verbrachte einige Tage in seiner Hängematte. Abgeschirmt von Antonia, die nur Sylvia zu ihrem Bruder durchließ, damit sie ihn mit ausreichend Wasser versorgte. Essen durfte er, soviel ich weiß, in dieser Zeit nicht. Auch zuvor hatte Inaina bereits gefastet, sein Körper war also an Entbehrung gewöhnt gewesen, was die Marter offenbar erträglicher machen sollte.
    Als Inaina endlich wieder zur gemeinsamen Runde am Feuerplatz seiner Großeltern erschien, war sein Rücken eine einzige Mondlandschaft. Überall Pickel, Beulen, Kratzer und eitrige Krater. Schnell schaute ich wieder weg. Der Appetit auf die duftende Schildkrötensuppe im Kochkessel von Antonia war mir gründlich vergangen.
    Ich wunderte mich im Nachhinein ein bisschen darüber, dass die meisten Aparai und Wajana meine Eltern bei ganz gewöhnlichen Insektenstichen um Wundsalbe oder Ballistol baten; das Waffenöl half nämlich wunderbar bei Sonnenbränden und Insektenbissen. Bei einer Marter hingegen wurden hunderte von Wespen- und Ameisenstichen klaglos in Kauf genommen. War es so anders, wenn man sich freiwillig seinem Leid aussetzte? Als ich mit Koi Blutsbrüderschaft schloss, bekam ich die Antwort darauf. Es war etwas vollkommen anderes, wenn sich der Geist über den Körper erhob.

Majestätischer Regenwald
     

Märchen, Mythen und Zahnschmerzen
     
    Wenn die Sonne hinter den Baumwipfeln des Urwalds verschwunden war und das Abendrot erst einem tiefen Blau und schließlich dem unausweichlichen Schwarz der bevorstehenden Nacht wich, kehrte Ruhe auf dem Dorfplatz von Mashipurimo ein. Nur ein paar klapperdürre Hunde streiften noch auf der Suche nach Nahrungsresten umher. Hier und da erklang der leise Singsang von Kinderstimmen, vermischt mit dem Klappern der Topfdeckel und dem Prasseln der Feuerstellen. Grillenzirpen und Froschquaken lieferten den Grundton des frühen Abends, unterbrochen vom Krächzen der Aras, die als Haustiere in den Hütten gehalten wurden. Das alles im immer gleichen Rhythmus, im Sommer wie in der Regenzeit.
    Im Schein der lodernden Kochfeuer saßen nun alle Familien vor ihren Hütten beisammen. Die Flammen spendeten nicht nur wohlige Wärme an kühleren Abenden, ihr Rauch vertrieb auch die lästigen Moskitos und hielt größeres Getier fern. Während wir vor Antonias Kochstelle hockten, kreiste eine Kalebasse mit Trinkwasser von Hand zu Hand. Jeder nahm einen Schluck daraus, bis sie leer war. Antonia füllte so lange nach, bis der Letzte seinen Durst gestillt oder auch nur seinen Mund ausgespült hatte. Erst dann fischte sie das Fleisch aus dem Kessel, um es reihum zu verteilen.
    Mein Abendessen nahm ich genauso ein wie die anderen: Die linke Hand war mein Teller, die rechte das

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