Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
lebenden Menschen studiert hatte. Der Alitani war der Grenzfluss zwischen Französisch-Guayana und dem damals noch niederländischen Surinam. Als mein Vater Tumaläpo am Fluss Maicurú begegnet war, hatten die beiden rasch einen guten Draht zueinander gefunden. Bei Tumaläpos Erzählungen über die gefährlichen Tiere und Waldwesen im Urwald war immer wieder ein Name gefallen, den mein Vater schon häufiger bei den Aparai gehört hatte. Es ging um ein seltsames Wesen namens Tamoko. Doch mein Vater würde sich noch beinahe zwei Jahrzehnte gedulden müssen, bis das Geheimnis des Tamoko gelüftet wurde.
Während sich Tumaläpo und Araiba nun auf dem Dorfplatz angeregt über ein bevorstehendes Ereignis unterhielten, hingen die anderen Männer gebannt an ihren Lippen. Darunter auch Inaina. Als sich Tumaläpo nach einer kurzen Verabschiedung auf den Weg ins Unterdorf machte, verweilten die Männer noch kurz bei Araiba, bevor sich die Gruppe wieder auflöste und jeder seines Weges ging. Araibas Rat war in diesen Tagen sehr gefragt. Die jungen Männer beklagten sich über den Umstand, dass sie im Urwald nicht genug Änö fanden. Bienenwachs sei inzwischen weitaus seltener aufzufinden als in alten Zeiten.
Araiba hockte sich auf den Boden und ritzte mit einem dünnen Ast eine Wegbeschreibung in den Sand. Es gab eine Lichtung flussabwärts, auf der laut Araiba Wildbienen flogen. Er skizzierte die Anzahl von Stromschnellen, die es zu überqueren galt, und die großen Felsen, an denen man sich orientieren musste; als Fixpunkt diente ein gewaltiger Flussfels mit einer kreuzförmigen Markierung in der Mitte des Paru – eingeritzt durch die Erosion im Lauf der Jahrtausende. Je nach Einstrahlung der Sonne warf das Kreuz einen Schatten, was den Steinbrocken zu einer Art Wahrzeichen machte. Erst wenn man diesen Koloss passiert habe, stoße man am linken Ufer auf besagte Lichtung. Dort sei es ein Leichtes, einen Bienenstock zu finden, meinte Araiba.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die Karte am Boden zu erhaschen. Ob es da wirklich genug Bienenwachs gab? Inaina blieb skeptisch.
Falls nicht, riet Araiba mit einem verschmitzten Grinsen, könne man ja mal meinen Vater fragen, ob der nicht zur Not Bienenwachs in Belém besorgen könne. Was er dann bei nächster Gelegenheit auch tat, so viel ich weiß.
Jakono hingegen wollte von Araiba wissen, wie dick der Stab für eine große Peitsche sein müsse. Araiba zeigte es ihm. So dick, dass man ihn kaum umfassen konnte. Am besten verwendete man Wäwämpo dazu, denn altes, abgelagertes Holz war deutlich robuster als frisch geschlagenes.
Was er wohl mit einer Peitsche vorhatte? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.
Araiba hingegen schon. Er schien für jedes Anliegen eine passende Antwort zu haben.
Als die Männer merkten, dass ich angestrengt lauschte, steckten sie die Köpfe zusammen und setzten ihre Unterhaltung im Flüsterton fort. Offensichtlich hatten sie etwas vor, was nicht unbedingt für die Ohren eines kleinen Mädchens bestimmt war.
Es ging also um Bienenwachs und um eine Peitsche, so viel hatte ich verstanden. Nun wollte ich unbedingt herausfinden, was die Männer vorhatten. Weshalb machten sie überhaupt so ein großes Geheimnis daraus? Umgehend eilte ich zu Antonia. Meine Sorge, dass unser Dorf bald in einen Krieg gegen ein anderes Dorf ziehen würde, quittierte sie mit schallendem Gelächter. Sonst so bedächtig und ernst, konnte sie sich gar nicht mehr einkriegen. Nein, wie ich nur auf so eine alberne Idee kommen könne.
Doch als Antonia meinen skeptischen Gesichtsausdruck bemerkte, wurde sie schnell wieder ernst. Beruhigend versicherte sie mir, dass die Aparai und Wajana schon vor einiger Zeit ihre Waffen niedergelegt hätten. Und dass es überhaupt keinen Grund gebe, wieder in den Krieg zu ziehen, weil uns mit den Nachbarn, zum Beispiel den Tirio, inzwischen tiefe Freundschaft verbinde. Und jene Stämme, denen die Aparai nicht so wohl gesonnen seien oder umgekehrt, ignoriere man einfach. Schließlich sei es klüger, sich von nicht so guten Menschen fernzuhalten, als sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Das führe zu nichts.
Dennoch ließ ich nicht locker. Was war denn mit den Weißen, von denen man sagte, sie würden sich den Urwald am liebsten ganz einverleiben? Antonia schwieg für einen Moment. Nein, nein, versicherte sie mir mit einem Seufzen, die Männer planten nur ein ganz besonderes Tanzfest. Einen Tanz zu Ehren des Tamoko.
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