Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
einem dramatischen Purpur überzog, legte sich die Dunkelheit über Mashipurimo. Der Schein des Feuers tauchte die Gesichter der Feiernden in ein sanftes, rotblondes Licht. Den ganzen Abend wurden lustige Geschichten über die Riesenfische aus der alten Zeit erzählt, und irgendwo im Hintergrund erklangen die hellen Töne einer Knochenflöte und der dumpfe Rhythmus eines gestrichenen Schildkrötenpanzers.
Mit einem wohligen Gefühl im Bauch stieg ich in meine Hängematte. Mein Vater machte sich im Schein unserer Kerosinlampe noch ein paar Notizen. Er schrieb die Namen der Fische auf kleine Karteikarten – auf Aparai, Wajana und Deutsch, sofern bekannt. Durch eine Lücke im Blätterdach unserer Hütte sah ich das Kreuz des Südens am Sternenhimmel funkeln. In den Balken hoch über meinem Moskitonetz vernahm ich das leise Flattern der Fledermäuse.
Bevor ich endgültig einschlief, hatte ich noch einen schönen Gedanken: Eines Tages, wenn ich groß und erfahren genug war, würde ich gemeinsam mit den anderen tief in den Urwald hineingehen, um nach der Liane Aissali zu suchen. Seite an Seite mit Sylvia, Koi, Tanshi und Mikulu. Einer von uns wäre der Herr oder die Herrin der Lianen. Und dann würden wir an den Tag zurückdenken, an dem wir gemeinsam im Fluss stehend einen Kreis um die Fische gebildet hatten.
Dass es dazu wohl nicht mehr kommen wird, liegt nicht so sehr an der Entfernung zwischen Europa und Südamerika, die sich mithilfe eines Flugzeugs überwinden lässt. Sondern an der tödlichen Bedrohung durch das Quecksilber, das illegale Goldschürfer diesseits und jenseits der Grenzen Guayanas, Surinams und Brasiliens tagtäglich in die Flüsse spülen. Gift, injiziert in die Lebensadern der Amazonasvölker, das dazu benutzt wird, den feinen Goldstaub von der rotbraunen Erde zu trennen. Allein in den letzten zehn Jahren wurden auf diese Weise über 2000 Tonnen Quecksilber in die Amazonasflüsse geleitet. Das hochgiftige Schwermetall macht nicht vor den Fischen halt, nicht vor den Flussdörfern, in denen Menschen leben, die nichts dafür können, dass ihr Paradies verseucht wird, die hilflos mitansehen müssen, wie ihre eigenen Kinder vergiftet werden. Die Flüsse sind ihre Lebensgrundlage. Sie baden in ihnen, sie trinken Wasser und beziehen einen Großteil ihrer Nahrungsmittel aus ihnen. Bald wird es keinen einzigen Fisch im Amazonas mehr geben, der noch frei von Quecksilber ist. Und jene Menschen, die über Jahrtausende die Natur respektiert und nach ihren Regeln gelebt haben, werden fortan kranke und behinderte Kinder zur Welt bringen.
Tamoko-Tamuro – Herrscher der Urwaldungeheuer
Der Tanz des Urwaldungeheuers
Seit einigen Wochen war Mashipurimo wie verwandelt. Großvater Araiba, der sonst immer ein offenes Ohr für uns Kinder hatte, war ständig unterwegs, und wir trafen ihn nur kurz zum gemeinsamen Mittagsmahl. Kaum angekommen, war er auch schon wieder verschwunden. Es schien, als wäre er mit tausend Dingen gleichzeitig beschäftigt, ohne dass wir wussten, weshalb. Offensichtlich war Antonia eingeweiht, denn die beiden warfen sich Blicke zu, während ich immer noch grübelte, was in Mashipurimo eigentlich los war.
Auf dem Weg zum Flussufer bekam ich zufällig mit, wie sich Araiba angeregt mit Tumaläpo unterhielt. Die beiden standen mitten auf dem Dorfplatz, umringt von neugierigen Zuschauern. Tumaläpo war der Großonkel von Koi und kam regelmäßig nach Mashipurimo, um seine Verwandten zu besuchen. João Batista, wie Tumaläpo mit weltlichem Namen hieß, war ein kluger Mann und immer zu Scherzen aufgelegt. Er sprach leise und sagte nichts, was nicht gründlich durchdacht war. Das machte ihn auch zu einem willkommenen Gast im Gartenhaus meines Vaters. Er war ein wunderbarer Chronist der Geschichten und Geschehnisse aus alter Zeit und hatte die Gabe, sie so zu vermitteln, dass auch die zeitlichen Abläufe annähernd Sinn ergaben. Bei den Aparai und Wajana war das keine Selbstverständlichkeit. Denn ein Gefühl für Zeit im Sinne von Monaten oder Jahren haben sie nicht. Mein Vater und Tumaläpo waren bereits seit Mitte der 1950 er Jahre miteinander befreundet. Halb im Scherz, halb im Ernst bezeichnete mein Vater Tumaläpo deshalb als seinen Lehrer. Die beiden hatten sich damals in einem kleinen Aparai-Wajana-Dorf am mittleren Lauf des Rio Maicurú kennengelernt. Zuvor hatte mein Vater fünf Jahre in einem Wajana-Dorf am Rio Alitani zugebracht, wo er die Sprachen und Gepflogenheiten der dort
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