Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
ganzen Jungfische dabei ebenfalls zu Tode kommen.« Das Gift betäubte alle Fische gleichermaßen. Bei aller Freude, so ermahnte uns Araiba, sollten wir nicht zu gierig sein. Habsucht sei die Vorstufe zum Untergang. Wer heute den ganzen Fluss ausräumte, hatte morgen nichts mehr zu essen. Glücklicherweise verteilte sich das Gift immer nur in einem Teil des Gewässers, ähnlich wie ein Tropfen Tinte in einem Wasserglas. Bereits nach wenigen Stunden war die Wirkung des Lianengifts verflogen, der Fluss auch für die Fische wieder harmlos.
Diese Art des Fischzugs war ein uralter Brauch vieler Völker Amazoniens. Sie wussten damals, dass er nicht beliebig oft hintereinander wiederholt werden durfte. Dass heutzutage manche Dörfer auch im Alltag überwiegend mit Gift fischen, liegt daran, dass sich ihr Verhältnis zur Natur verändert hat. Und daran, dass die uralten Riten und Feste zunehmend an Bedeutung verloren haben. Die Menschen wurden von den Verheißungen des Fortschritts verführt, während ihre ursprünglichen Fähigkeiten und Kenntnisse zunehmend schwinden. Nach traditionellen Bräuchen steht heute nicht mehr allen Indianern der Sinn. Wer keine Zukunft für sich sieht, wird sich kaum noch für seine Vergangenheit interessieren.
Lianen werden für den großen Fischzug ausgeklopft
Während Malina und die anderen Frauen etwas abseits auf den Felsen die Fische schuppten und ausnahmen, machte sich Araiba ans Schüren des Feuers. Gewissenhaft errichtete er eine Art kegelförmigen Grill. Anschließend spießte er die gesäuberten Fische jeweils auf einen langen, angespitzten Stock. Vor unseren Augen entstand ein großer Kreis aus Stöcken, der in der Mitte auf eine gemeinsame Spitze aus Fischen zulief.
Schon bald vermischte sich der appetitliche Duft von geräuchertem Fisch mit dem Geruch von Holzkohle und Baumharzen. War ein Fisch fertig gegrillt oder geräuchert, wurde er aus dem Feuer genommen und durch einen neuen Fischspieß ersetzt. Araiba ging dieser Arbeit mit der Ruhe und Konzentration eines Zen-Mönchs nach. Während ich Araiba noch bei der Arbeit beobachtete, sammelte Koi die herumliegenden Fischschuppen auf und klebte diese wie Pailletten auf ihre nassen Arme. Sie sah aus wie ein richtiges Wasserwesen. Eine tolle Verkleidung, fanden Araiba und ich.
Koi ließ sich auf den Boden neben mir plumpsen. Interessiert betrachteten wir unsere Hände und Fußsohlen, die inzwischen so verschrumpelt waren, wie die Haut der alten Peputo. Außerdem hatten wir von der Rennerei über die schroffen Felskanten im Fluss zahlreiche Blessuren davongetragen. Müde, aber überglücklich über unsere Ausbeute machten wir uns über die kleinen Stücke geräucherten Fischs her, die Araiba uns zusteckte. Wir waren die Vorkoster, bevor es mit dem richtigen Abendmahl losging. Die Gräten warfen wir hinter uns ins Gestrüpp, wo sie von den herumstreunenden Hunden dankbar aufgeschnappt wurden.
Das Festgelage im Dorf dauerte bis tief in die Nacht. Anakalena wurde nicht müde, seine Gäste großzügig zu bewirten, und fand aufmunternde Worte für jeden der Anwesenden. Die Frauen brachten unentwegt Schalen mit frischem Kashiri Kononto. Die Gäste bedankten sich, indem sie Balladen zum Besten gaben.
Alle durften so oft zulangen, bis niemand mehr »P app« sagen konnte. Jeder Fisch schmeckte ein wenig anders, und man überbot sich gegenseitig darin, den Geschmack zu beschreiben und ihn mit einer anderen Sorte von Fischfleisch zu vergleichen. Wenn jemand einen besonders delikaten Fisch erwischt hatte, nahm er sich nur ein kleines Stück davon, um den Rest an die anderen in der Runde weiterzureichen, die ihrerseits regelrechte Lobeshymnen anstimmten. »S o ein guter Fisch schwimmt ganz sicher nur in der Nähe von Mashipurimo herum. Köstlich!« Kein Stückchen durfte übrig bleiben. Kühlschränke gab es am Amazonas schließlich nicht. Nur Fleisch wurde manchmal für Notzeiten durch Räuchern haltbar gemacht.
Die für die Aparai so übliche Zurückhaltung beim gemeinsamen Mahl, die Vorsicht, nicht zu gierig zu erscheinen, auch wenn der Magen noch knurrte, war bei solchen Festgelagen außer Kraft gesetzt. Wer nach mehreren Stunden der Völlerei schlappmachte, gab nicht viel auf seinen guten Ruf. Es würde die Aparai und die Wajana schockieren, wenn sie wüssten, wie viele Nahrungsmittel wir täglich wegwerfen.
Mit Pfeil und Bogen – ein Aparai nimmt einen Fisch ins Visier
Nach einer kurzen Tropendämmerung, die den Himmel mit
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