Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
die alten Bräuche wiederaufleben zu lassen.
Als Peputo anbot, uns die Schritte für den Tamoko-Tanz zu zeigen, waren wir begeistert bei der Sache. Obwohl wir wussten, dass bei den Festen nur die Männer tanzten – sehr zur Belustigung von Frauen und Kindern. Die Zeremonienmeisterin ließ uns nach links stampfen, dann wieder nach rechts, und so lernten wir, uns zu bewegen wie jene großen, gruseligen Urwaldungeheuer, die einst viel Macht über die Menschen gehabt hatten. Nach kurzer Zeit war Peputo ganz außer Atem, setzte sich auf den nächsten Felsen und gab uns von dort aus Anweisungen. »I hr dürft nicht vergessen, dass Tamokos übersinnliche Kräfte haben. Das muss man euren Bewegungen ansehen.«
Als wir mit unserem Tanz fertig waren, ließ Peputo uns wissen, dass sie in letzter Zeit viel Besuch bekomme. Von Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit. Und schließlich begann Peputo mit bedeutungsvoller Miene, uns den uralten Mythos vom Urwaldungeheuer Tamoko und seiner schrecklichen Rache an den Menschen zu erzählen.
Die Rache der Tamokos
»Eines Tages lief ein Aparai-Jüngling tief in den Urwald hinein. Dort ließ er sich in der Nähe eines früchtetragenden Baumes nieder, wo er aus Palmblättern ein kleines Tato baute, einen Unterstand. Hier wollte er im Verborgenen auf Wild oder Kulusi-Vögel warten, die durch die heruntergefallenen Früchte herbeigelockt wurden. Dabei musste sich der junge Jäger in Geduld üben und eine lange Zeit ganz still verharren. Nicht die kleinste Regung durfte ihn verraten. Nur so würde es ihm gelingen, reiche Beute zu machen.
Doch aus der Tiefe des Urwalds flatterte kein einziger Vogel herbei, nicht einmal ein Kapau, ein Reh, ließ sich blicken. Das einzige Tier, das der Jäger schließlich erspähte, war ein kleines schwarzes Wesen, von Kopf bis Fuß dicht behaart und mit einem prächtigen Federkamm auf dem Kopf. So etwas hatte der junge Aparai noch nie gesehen. Er staunte, als das seltsame Tier immer näher kam, dabei fröhlich vor sich hin krähte und unbekümmert von den süßen Früchten aß, die in Hülle und Fülle unter dem Baum auf der Erde lagen. Dabei bewegte es sich aufrecht, beinahe wie ein Mensch. Der junge Jäger hatte dem Treiben eine Weile zugeschaut, dann schoss er einen seiner Pfeile ab. Das getroffene Wesen brüllte vor Schmerz laut auf und rannte, so schnell es konnte, in den Urwald hinein.
Zurück im Dorf, erzählte der Jäger den anderen Aparai von seinem Abenteuer. Er prahlte geradezu damit, ein wildes, bedrohliches Untier in die Flucht geschlagen zu haben. Die älteren Jäger warfen sich erschrockene Blicke zu. Wieder und wieder ließen sie sich das Wesen beschreiben. Kein Zweifel: Es musste ein Tamoko gewesen sein. Sie bekamen es mit der Angst zu tun.
Und tatsächlich dauerte es nicht lange, da schwärmten die Tamokos in großer Zahl aus. Zunächst erschienen nur kleinere, dann folgten größere und immer größere, bis zuletzt der riesige Tamoko-Tamuru, das große Urwaldungeheuer erschien. Die Untiere stampften unentwegt auf den Boden und stießen fürchterliche Geräusche aus, während sie den Kreis um das Dorf immer enger zogen. Die Aparai flohen in die Obergeschosse ihrer Pfahlbauten, wo sie starr vor Angst verharrten. Das sollte ihnen aber nichts nützen, denn die Tamokos führten gewaltige Peitschen mit sich, die sich wie Tentakel eines Kraken um die Pfosten der Pfahlbauten schlangen, und die Hütten mit einem Ruck wie Kartenhäuser in sich zusammenfallen ließen. Selbst das massive Rundhaus knickte ein, als wäre es aus Streichhölzern.
M an muss sich nur vorstellen, welche unermesslichen Kräfte dazu nötig waren«, raunte Peputo mit tiefer Stimme. Beklommen schauten wir uns an.
» Als die Hütten zusammenfielen, purzelten die Aparai wie kleine Ameisen auf den Boden.« Peputu machte eine Handbewegung, als zerstreue sie Pfeffer. »Die rachsüchtigen Tamokos stürzten sich auf die Menschen und verschlangen sie allesamt mit Haut und Haaren. Auf dem Dorfplatz blieben nur noch ein paar Blutflecken zurück.
Nachdem die Tamokos nun das Dorf des jungen Aparai-Jägers ausgelöscht hatten, marschierten sie zur nächsten Siedlung, der das gleiche Schicksal widerfuhr. Niemand wusste, ob die Tamokos auch das aus Rache taten oder inzwischen einfach nur Geschmack an Menschenfleisch gefunden hatten. Jedenfalls ging es Dorf für Dorf so weiter, bis eines Tages ein mächtiger Aparai-Zauberer eine große Zigarre rauchte und in Trance den Stammvater der
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