Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
glänzenden Stupsnase. Beinahe wie ein Koalabär, nur ohne die abstehenden Ohren.
Allerdings war es tatsächlich sehr groß. Geradezu riesig und mindestens doppelt so breit wie das tote Exemplar, das ich im Boot der Jäger gesehen hatte. Und wie das Riesenfaultier da so regungslos im Baum hing, den einen Arm um den Ast über seinem Kopf geschlungen, festgehalten einzig durch seine scharfen Krallen, die Knopfaugen geradewegs auf uns geheftet, das hatte schon etwas Beeindruckendes. Faultiere bewegen sich kaum, und wenn, dann nur in Zeitlupentempo, weshalb man ihre Regungen kaum wahrnimmt. Genau das schien den Frauen Angst einzujagen. Kein Tier war so lahm, dass es bei der Begegnung mit Menschen nicht sofort die Flucht ergriff. Und normalerweise kam so ein Faultier auch nicht bis an den Dorfrand heran.
Zurück im Dorf, konnten sich die Frauen gar nicht mehr beruhigen. Sie schnatterten wild durcheinander und wollten umgehend etwas unternehmen. Die Männer mussten her. Die Frauen suchten nach Gewehren, Pfeilen und Bogen, mit denen sie das Faultier zur Not selbst erlegen konnten. Natürlich nur, falls es uns angriff. Eine Frau wurde ausgesandt, um die Männer, die auf der Jagd waren, zurückzuholen. Das böse Geisterwesen musste aus dem Dorf vertrieben werden, bevor es Unheil über uns bringen konnte. Als ich leise Zweifel anmeldete, wurde ich darüber aufgeklärt, dass dies kein gewöhnliches Faultier sei, sondern ein Geist, der die Gestalt eines Faultiers angenommen habe. Geister traten nach dem Glauben der Aparai häufig als Tiere oder Wechselwesen auf und lebten im tiefen Urwald. Wenn sie so nah an eine menschliche Behausung herankamen, konnte das nichts Gutes bedeuten. Dann trieben sie so lange ihr Unwesen unter den Menschen, bis diese krank wurden.
Der Dorfrat – Männerrunde in Bona
Eine Frau aus dem oberen Nachbardorf, eine Tirio, die zufällig mit ihrem Boot vorbeikam, begab sich umgehend auf den Weg zum Faultier-Baum. Die Frauen, denen sie am Ufer begegnet war, hatten ihr aufgeregt von dem mysteriösen Wesen erzählt. Dort hing das Tier nach wie vor regungslos und sah immer noch alles andere als angriffslustig aus. Offiziell glaubte die Tirio-Frau nicht mehr an Geister, denn sie hatte den Vorstellungen der Ahnen abgeschworen und den christlichen Glauben angenommen. Eigentlich katholisch getauft, war sie neuerdings auch noch stolze Besitzerin einer jener protestantischen Bibeln, wie sie seit Kurzem von evangelischen Missionaren in einigen Indianerdörfern unter die Leute gebracht wurden. Mit schlichten Zeichnungen darin, kein Vergleich zu den bunten Bibelbilderbüchern, die heutzutage überall am Amazonas wie Bonbons verteilt werden.
In jenem Christenbuch gab es spannende Geschichten über das Fegefeuer und die Erlösung. Ein Faultier kam in der Bibel allerdings nicht vor. Zumindest hatte die Frau noch nichts von einem Faultier bei Jesus Christus gehört. Und so war sie sich auch nicht ganz sicher, wie man so einem Wesen am besten begegnen sollte. Vielleicht durch Beten, schlug sie vor.
Umringt von den etwas mutigeren Frauen schritt sie zur Tat – um schon nach kurzem Murmeln ins Stocken zu geraten. Das Faultier sei wirklich unnatürlich groß. Eine Erkenntnis, zu der die Frauen des Dorfes auch schon gekommen waren.
Ob das allerdings ausreichte, das arme Tier als bösen Geist zu verdammen? Überhaupt gebe es bei den Christen gar keine finsteren Urwaldgeister, sondern nur Engel, Heilige, Dämonen und einen Teufel. Die mochten in ihrer Art recht ähnlich sein wie unsere guten und schlechten Geister, aber doch ein wenig anders. So richtig erklären konnte uns die Frau die Unterschiede jedenfalls nicht. Neuerdings war sie auch ein wenig durcheinandergeraten, weil die Protestanten behaupteten, den einzig richtigen Gott zu haben, während die Katholiken das Gleiche für sich beanspruchten. Die eine Seite bezeichnete die andere deshalb hinter vorgehaltener Hand als Lügner. Was bei den Tirio und anderen bekehrten Stämmen langfristig dazu führen sollte, dass eine Gemeinschaft, die bislang geeint nach uralten Traditionen gelebt hatte, durch das fremde Gedankengut gespalten wurde. Und das alles im Namen des lieben Gottes. Die verwirrte Tirio wurde erst einmal zum Essen eingeladen. Alles andere würde sich später von selbst finden.
Erst am Nachmittag erfuhr ich, dass sich eine Aparai-Frau damit nicht hatte begnügen wollen. In größter Sorge um unser Dorf hatte sie sich mit einem Gewehr auf den Weg zur
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