Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Tänzer bei unserem Fest am Amazonas getragen hatten. Auch waren die Farben strahlender als die erdigen Pigmentfarben in meiner Erinnerung. Araiba hätte diesen Mantel mit einem Blick als plumpe Fälschung entlarvt.
Nach dem ersten Schock stellte ich fest, dass die Sehschlitze der Maske viel zu weit auseinanderstanden, die Nase zu klein und der Kopfumfang zu schmal für einen ausgewachsenen Tänzer war. Außerdem hatte die Maske des Tanzmantels einen richtigen Mund mit Lippen, anders als ein echter Tamoko-Mantel. Ich musste an die Worte von Peputo denken, die uns erzählt hatte, dass die Tamokos zwar von menschenähnlicher Gestalt seien, aber nicht sprächen. Deshalb hatten die Masken auch keinen Mund.
Für die stattliche Summe von 8000 Dollar konnte man einen solchen Mantel erstehen und hinterher etwas sein Eigen nennen, von dem man vermutlich nicht die geringste Ahnung hatte. Inzwischen kann man solche vermeintlich echten Tamoko-Mäntel in einfacherer Qualität sogar unter 1000 Dollar erwerben. Serienmäßig gefertigt, weil sich indianisches Kunsthandwerk vom Amazonas so prima verkaufen lässt.
Auf einem Plexiglasschild stand zu lesen: »R itueller Schamanen-Tanzmantel aus dem Amazonas. Herkunft: Wajana oder Aparai.« Ob der künftige Besitzer eines solchen Kostüms wohl ahnte, dass es in der Vorstellung der Aparai großes Unheil brachte, wenn ein Fremder diese Maske jemals zu Gesicht bekam?
Ich dachte an Araiba, der Mitte der 1990 er Jahre im Alter von 104 Jahren verstorben war, kurz nachdem wir uns ein letztes Mal Lebewohl gesagt hatten. Wenn er wüsste, dass die sagenhaften Tanzmäntel heutzutage massenhaft für den Verkauf an Touristen hergestellt werden, würde er sich im Grab umdrehen. Oder vor lauter Zorn ein fürchterliches Gewitter auf die Erde hinabschicken.
Die stolzen Tamoko-Tänzer (in der Mitte mein Vater)
Vor der Arbeitshütte meines Vaters
Jesus war kein Faultier
Nicht lange nach dem Tanzfest tauchte ein Ungeheuer ganz anderer Art in unserem Dorf auf.
Wie fast jeden Morgen war mein Vater schon kurz nach dem Aufstehen in seiner Bürohütte verschwunden. Es gab Zeiten, in denen er so beschäftigt war, dass ich ihm höchstens durch Zufall über den Weg lief. Wenn ich ihn sehen wollte, blieb mir also oft nichts anderes übrig, als ihn im Gartenhaus zu besuchen. Da gerade alle ausgeflogen waren und der Dorfplatz verwaist in der Morgensonne lag, machte ich mich auf den Weg zum Waldrand. Mal sehen, was mein Vater gerade so trieb. Besonders interessant fand ich das Tonbandgerät, mit dem er Stimmen aufnehmen und wiedergeben konnte. Es hatte in meinen Augen etwas Magisches. Auf unzähligen Rollen waren Gespräche mit Einheimischen, alte Mythen, Lieder und traditionelle Musik konserviert. Wenn das Tonbandgerät abgeschaltet war, teilten ihm seine Gäste manchmal auch ihre Sorgen oder Wünsche mit.
»N a? Kommst du mich mal wieder stören?« Das war meist die übliche Begrüßung, die mein Vater für mich parat hatte. Doch diesmal kam es erst gar nicht dazu. Ungefähr auf halbem Weg traf ich auf eine Gruppe von Frauen, die in Schockstarre vor einem großen Baum verharrten. Die Köpfe in den Nacken gelegt, blickten sie in die Baumkrone. Als ich mich zu ihnen gesellte, um zu sehen, was da los war, hielt mir Pulupulu die Hand vor den Mund. Sie bedeutete mir, bloß keinen Mucks zu machen. Dann setzte sich die Gruppe geschlossen und langsam rückwärts gehend in Bewegung, den Blick immer noch auf die Astgabeln geheftet. Im ersten Moment dachte ich, dort oben hinge ein riesiges Hornissennest. Das hätte auch die Unruhe der Frauen erklärt. Doch was ich entdeckte, war alles andere als schlimm. Ein etwas erstauntes, aber gelassenes Faultier hing im Baum unweit von Papas Bürohütte. So ein Faultier hatte ich schon einmal gesehen, allerdings weniger lebendig und viel kleiner. Es hatte in einem jener Boote gelegen, mit denen die Männer ihre Jagdbeute transportierten, es war zusammengerollt und mausetot.
»J oloko!«, flüsterte eine der Frauen und zeigte panisch auf das Tier im Baum. Ein Geist!
»J oloko sänto nümölö!« Alle sprachen nun durcheinander. Ich verstand ihre Aufregung nicht. Das war doch bloß ein Tier und kein »b öser Geist«. Zugegeben, es hatte ein paar furchterregende Klauen an den Pfoten, aber mit seinem zotteligen Fell sah es eigentlich recht freundlich aus. Eine Mischung aus dickem Affen und Ameisenbär. Mit putzigem Gesichtsausdruck, Knopfaugen und einer schwarz
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