Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Hütte meines Vaters gemacht und tatsächlich auf das wehrlose Tier geschossen. Vermutlich zitterte sie dabei so stark, dass sie die Flinte nicht ruhig halten konnte. Auf jeden Fall war das Magazin leer, ohne dass sie das Tier getroffen hatte. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich das hörte. Hatte sie denn nichts aus der Geschichte über die Rache der Tamokos gelernt? Wenn wir Pech hatten, bekamen wir es demnächst mit einer ganzen Armada von Faultieren zu tun. Und mit deren Ahnengeist, der sich für diese sinnlose Aktion rächen würde. Es grenzte an ein Wunder, dass das Faultier den Kugelhagel unversehrt überlebt hatte. Es war nicht tot vom Baum gefallen, sondern hing weiter an seinem Platz zwischen der Astgabel und rührte sich keinen Millimeter. Ein ganz und gar wahrhaftiges Wunder. Und der schlagende Beweis dafür, dass das Faultier in Wirklichkeit ein mächtiger Urwaldgeist war.
Als ich mich am nächsten Morgen mit Antonia auf den Weg zu Papas Bürohütte machte, hing das Faultier noch immer an der gleichen Stelle. Regungslos. Ob es vor lauter Schreck mit offenen Augen gestorben war? Ich winkte dem Faultier zu, hüpfte auf und ab wie ein Ping-Pong-Ball, doch es schien mit unbewegter Miene durch mich hindurchzuschauen.
Mein Vater war angesichts der wachsenden Unruhe in unserem Dorf besorgt. Und sicher auch ein wenig genervt, weil sich sein stilles Refugium inzwischen zu einem Wallfahrtsort für neugierige Besucher gewandelt hatte. Das Faultier war die Attraktion von Mashipurimo. Doch außer beschwichtigenden Worten und der Versicherung, dass es sich tatsächlich nur um ein etwas zu groß geratenes Faultier handele und nicht um einen unheimlichen Geist, fiel meinem Vater auch nicht viel ein, um wieder für Ruhe im Dorf zu sorgen. »I ch kann das Ding ja schlecht vom Baum nehmen! Diese Tiere sind stark und haben nicht zu verachtende Krallen. Die könnten ziemlich unangenehm werden«, sinnierte er. Meine Mutter kaute nachdenklich auf einem Frühstückscracker herum und nahm einen großen Schluck gezuckerten Kaffee. Auch sie schien ein wenig ratlos. Wenn man das Faultier doch nur irgendwie vertreiben könnte! Die Tatsache, dass es trotz des Kugelhagels vollkommen unbeeindruckt geblieben war, machte alles nur noch schlimmer. In den Erzählungen der Dorfbewohner wurde das mysteriöse, unverwundbare Wesen von Tag zu Tag mächtiger.
Kurz darauf besuchte José Ferreira, ein Mann aus Bona, unser Dorf. Er kam, sah und wusste sofort, was los war. Der Sohn des Zauberers Tooschi, inzwischen bekehrter Protestant, mit Aparai-Namen Itukaapo, war felsenfest davon überzeugt: Dieses Faultier war kein Geist! Es war Jesus! Nur Jesus war unsterblich. Auf dem Dorfplatz hob er mit dröhnendem Timbre zu einer Art Predigt an: »E ines Tages, so steht es geschrieben, wird Jesus zu den Menschen wiederkehren …« Es war ein beinah bühnenreifer Auftritt. Itukaapo alias José, ein groß gewachsener, kräftiger Mann, der seine Haare kurz geschnitten und mit einem schnurgeraden Seitenscheitel trug, stand aufrecht in der Mitte des Platzes. Die Arme verschränkt, den Bauch eingezogen und den Rücken durchgedrückt, wirkte er noch imposanter als ohnehin schon. Er benahm sich wie ein Politiker, der genau wusste, welche Knöpfe er bei seiner Wahlkampfrede drücken musste, um das Publikum mitzureißen. Zuvor hatte er sich mit dem Dorfrat abgesprochen und sorgfältig abgewogen, welche Vor- und Nachteile das Erscheinen dieses Wesens mit sich brachte. Unter seiner weisen Anleitung sei man schließlich zu dem Schluss gekommen, das Faultier sei kein böser Geist, sondern eine Botschaft des Himmels.
Die Anwesenden nickten einsichtig. Ja, so könnte es möglicherweise sein. Mit Pfeilen, Bogen und Gewehren beladen – man konnte ja nie wissen – und mit Friedensangeboten auf der Zunge machte sich schließlich eine Gruppe entschlossener Männer und Frauen auf den Weg zum Faultier-Baum. Mein Vater sah der Truppe mit einigem Kopfschütteln nach, folgte ihnen dann aber doch mit etwas Abstand. Am Baum angekommen, war das Faultier spurlos verschwunden.
Weit weniger erfreulich war, was einige Monate später mit dem Prediger geschah. Zwar kannte ich ihn von gelegentlichen Besuchen in Bona als freundlichen Gastgeber, der für meine Eltern immer ein gutes Wort übrig hatte. Allerdings sagte man ihm nach, dass er nicht nur eifrig predigte, sondern gelegentlich auch trank. Dank seiner Kontakte zu den Missionaren lebte er gut vom schwunghaften Handel mit
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