Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
hinterließen. Wir hielten die Luft an. Was, wenn das keine Verkleidung, sondern ein echter Tamoko war? Der Tamoko-Tamuru stampfte so heftig auf, dass ich das Gefühl hatte, der Boden würde erzittern. Seine Peitsche sauste durch die Luft, schwang erst nach rechts, dann nach links, dann schleuderte das Wesen den Lianenstrang gegen einen Stützpfosten. Wie eine Schlange wickelte sich die Peitsche um das Holz. Das war ja genau wie in der Geschichte! Gleich würde der Tamoko-Tamuru das ganze Haus einreißen! Weg, nur schnell weg. Doch während ich mich aufrappelte, entdeckte ich am Handgelenk des Ungeheuers etwas, das vertraut in der Sonne glänzte. Eine silberne Armbanduhr. Kein Urwaldungeheuer trug eine Armbanduhr. Nur mein Vater.
Beinahe hätte ich einen Lachanfall bekommen. Da mein Vater mit seinen beinahe einsneunzig alle anderen Männer im Dorf deutlich überragte, hatte er natürlich das Los des Tamoko-Riesen gezogen. Hinzu kam, dass das Kopfteil, auf dem sich die Maske befand, von einer Art Haube abgerundet wurde, die deutlich höher als die der anderen war. Gekrönt von einem Büschel prächtiger Ara-Schwanzfedern. Damit war der Tamoko-Tamuru rund ein Drittel größer als die »n ormalen« Tamokos. Alles in allem erreichte mein Vater in dieser Aufmachung eine geschätzte Größe von zwei Meter fünfzig.
Mein kleines Geheimnis behielt ich vorerst für mich. Schadenfroh beobachtete ich die erschrockenen Gesichter von Mikulu, Tanshi und Koi. Sylvia hingegen zeigte sich von all dem unbeeindruckt. Sie war zur Wasserträgerin auserkoren worden, deshalb hatten wir sie zu Anfang der Vorstellung auch nirgendwo entdecken können. Unter den Tanzmasken wurde es ganz ordentlich heiß. Dazu noch der schwere Lianenmantel und die kräftezehrenden Stampfschritte; das haute jeden noch so erfahrenen Tänzer irgendwann um, wenn er zwischendurch kein kühlendes Getränk bekam. Vorsichtig balancierte Sylvia die Schalen mit Maniokbier und Wasser, die sie den Tänzern unter den Lianenfransen hindurchreichte. Koi war beeindruckt, wie mutig sie war.
Plötzlich ging ein Ruck durch die Tanzgruppe, und ein Tamoko lupfte seinen Hut samt Maske und schob den Mantel zurück. Darunter kam ein weiteres Gebinde aus Lianen zum Vorschein, eine Art Tanzmantel-Unterkleid. Das war ja Inaina! Sein Gesicht glänzte in der Sonne, und er brach in schallendes Gelächter aus, als er unsere erstaunten Gesichter sah. Ein weiterer Tamoko tat es ihm nach. Es war Araiba. Euphorisch stürmten wir den Tänzern entgegen.
»I ch wäre fast in Ohnmacht gefallen, so heiß war es da drunter.« Großvater Araiba zog ein Tierbänkchen heran, auf dem er sich erschöpft niederließ. Nach und nach gesellten sich die anderen Tänzer dazu. Nur der Tamoko-Tamuru verschwand mit einem Grummeln in der Hütte. Später erzählte uns mein Vater, dass er den Tanzhut nicht ohne fremde Hilfe vom Kopf bekommen hatte. Das Stirnband aus Agavenfasern unter dem Hut habe derart fest gesessen, dass die Männer schließlich zu dritt daran ziehen mussten, damit er sich vom Kopf löste.
Endlich kam auch Sylvia zu uns. Koi klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. Auch ich bewunderte sie für ihren Mut. Am Anfang hätten ihr noch ein wenig die Knie geschlottert, gab sie zu, aber von Runde zu Runde sei sie ruhiger geworden. Die Zuschauer waren sich einig, dass Sylvia den Tamoko-Ungeheuern das Kashiri-Kononto -Bier sehr würdevoll überreicht hatte. Ich war mir ganz sicher, dass auch sie die Armbanduhr am Handgelenk meines Vaters entdeckt hatte. Hatte sie aber nicht. Es waren die Füße von Araiba gewesen, die sie auf die richtige Spur gebracht hatten. Eine Narbe auf dem Fußrücken, die von einem Schlangenbiss herrührte, habe ihr den Träger des Kostüms verraten, erzählte sie mir später und grinste. Spätestens an diesem Tag wurde mir bewusst, dass Sylvia mit ihren acht, neun Jahren auf dem Weg war, erwachsen zu werden. Antonia war dabei, ihr mehr und mehr Verantwortung zu übertragen, und das Amt des Wasserträgers war eine Art Test, den meine Patin mit Bravour bestanden hatte. Bald würde auch sie eine Marter über sich ergehen lassen und ihrem Bruder Inaina in die Welt der Erwachsenen folgen.
Etliche Jahre nach unserem Tamoko-Tanzfest stöberte ich in einem »T ribal arts«-Laden in den Südstaaten der USA herum. Mich traf beinahe der Schlag, als ich einen Tamoko-Mantel entdeckte. Er sah aus wie aus dem Bilderbuch – viel glatter und perfekter als die Maskenmäntel, welche die
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