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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherina Rust
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Normalerweise war das Weinen und Klagen vor anderen nämlich tabu.
    Araiba erklärte uns flüsternd, was es mit der Heulerei auf sich hatte. Auf diese Weise gedachten die Frauen der Verstorbenen. Unter gehörigem Geschrei weinten sie ihren Schmerz über den Verlust ihrer Lieben heraus. Namen wurden gerufen, die wir noch nie zuvor gehört hatten: »E r war ein guter Jäger, und er war großzügig, tapfer und mutig. Er hat sogar den Angriff eines Jaguars überstanden. Huuuhuuuhuuuu. Er hatte gewelltes Haar und zarte Hände, und er konnte so gut Flöte spielen …«
    So in der Art ging das den ganzen Abend, die Frauen weinten und klagten noch, als Koi und ich schon längst in unseren Hängematten lagen. Es war auch eine Frau dabei gewesen, die wir bis dahin noch nie in unserem Dorf gesehen hatten. Sie war, so hieß es, die beste Wehklagerin vom ganzen Amazonas und wurde daher auch zu Trauerrunden eingeladen, bei denen Verstorbene beweint wurden, die sie gar nicht persönlich kannte. In meinen Augen allerdings gebührte diese Auszeichnung Malina. Die Art, wie sie sang oder etwas beklagte, war so bewegend, dass ich Gänsehaut bekam. Ob sie dabei an ihren ersten Mann dachte?
    Nacheinander hatten alle Frauen einen Verstorbenen beweint. Solche, die vor kurzer Zeit von uns gegangen waren, aber auch solche, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr unter uns lebten. Solche, an die sie in tiefer Verbundenheit dachten, aber auch solche, denen keiner nachtrauerte, weil sie keine Verwandten hatten. Nur über Menschen, die Unheil oder Leid über andere gebracht hatten, wurde geschwiegen. Wer in der Erinnerung seiner Nachfahren keine Rolle mehr spielte, hatte umsonst gelebt.
    An jenem Abend erfuhr ich eine ganze Menge über die Menschen, die vor unserer Zeit unter den Aparai und Wajana gelebt hatten. Die Flammen des Abendfeuers waren die Projektionsfläche für unsere Gedanken an die Verstorbenen. Durch die Geschichten und Schilderungen wurden sie für kurze Zeit wieder lebendig. Und bei aller ritualisierten Trauer wurde zwischendurch auch herzlich gelacht.
    Am nächsten Morgen war der ganze Spuk wieder vorbei. Bestens gelaunt gingen alle ihren gewohnten Arbeiten nach, als wäre nichts geschehen. Wer richtig trauerte, war hinterher anscheinend auch richtig erleichtert. Katharsis auf Aparai. Wie oft derartige Trauerrunden abgehalten wurden, weiß ich nicht mehr, ich selbst habe sie nur zwei Mal bewusst erlebt.
    Doch ich erinnere mich, dass das Thema Tod anschließend noch eine ganze Weile in unseren Köpfen herumgeisterte. Koi und ich malten uns aus, wie es wäre, wenn wir eines Tages alt und schwach in die Erde sänken. Und wir redeten uns den Mund fusselig, ob es vielleicht besser sei, in der Tradition der Aparai bestattet, also begraben, oder nach Wajana-Sitte verbrannt zu werden. Während die Aparai in der Hocke sitzend in einem Erdloch begraben wurden, bahrten die Wajana ihre Toten auf einem Gestell auf, das anschließend entzündet wurde. Ihre Asche wurde im Urwald verstreut und nicht etwa – wie bei den Yanomami – mit Bananenbrei vermischt gegessen.
    »B egraben«, sagte ich.
    »N ein, verbrannt«, erwiderte Koi.
    »N a gut, dann halt verbrannt, dann fressen uns nicht die Würmer«, lenkte ich ein.
    Darauf Koi: »D och lieber vergraben, falls man noch nicht ganz tot ist?«
    So in der Art liefen unsere Unterhaltungen ab. Zwei kleine Mädchen fabulierten über ein Thema, das sie nicht annähernd begreifen konnten.
    Als ich rund zwanzig Jahre später, nicht sehr lange nach unserem Wiedersehen am Rio Paru, erfuhr, dass Koi mit nur 26 Jahren gestorben war, musste ich an diese Szenen aus unserer Kindheit denken. Ihre vier Kinder und ihre zahlreichen Nichten und Neffen werden hoffentlich noch lange ihrer gedenken. In meiner Erinnerung wird Koi jedenfalls weiterleben – als quirlige Rabaukin, als Spielgefährtin, als Freundin. Ebenso Araiba, der Held meiner Kindheit. Er bestimmt bis heute mein Denken, und ich frage ihn manchmal um Rat. Würden die Aparai und Wajana noch ihre alten Rituale zelebrieren und nicht die importierten Christenmessen, dann wäre es mir eine Ehre, einer Trauerrunde für Koi und Araiba beizuwohnen. Und für Kulapalewa, Pulupulu, Peputo und all die anderen, die noch so leben durften, wie es ihren Nachfahren heute nicht mehr vergönnt ist.
    Letzte Ruhestätte
     
    Einige Monate nach jener Trauerrunde waren die Mashipurianer wieder einmal unterwegs, um Freunde, Verwandte und Bekannte in anderen Dörfern zu

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