Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Zivilisationsartikeln, der ihm zwar Geld einbrachte, aber kein Glück. Der Alkohol, der seine Sinne vernebelte, förderte eine Seite seiner Persönlichkeit zutage, die seinen Mitmenschen Angst einjagte. Jähzorn wurde mit der Zeit zu Josés ständigem Begleiter. Dazu kamen der Verlust der eigenen Kultur und die Macht eines fremden Glaubens, die José Ferreira schließlich zerstörten. Er war ein Wanderer zwischen den Welten, gehörte aber nirgendwo mehr so richtig dazu. Unter dem Einfluss der Gottesprediger begann er zunehmend wirr zu sprechen, vom bevorstehenden Weltuntergang, der in den Bibeln der Missionare allgegenwärtig war und es heute noch ist. Doch anstatt sich dieses armen, seelenkranken Menschen anzunehmen, wandten sich die christlichen Missionare schließlich von ihm ab, mit der Begründung, ein »D ämon« sei in ihn gefahren. Der Rat eines weisen Aparai-Heilers hätte sich möglicherweise angeboten, aber dafür war der bekehrte José schon lange nicht mehr empfänglich.
Die Begegnung am Faultier-Baum sollte unsere letzte mit José alias Itukaapo gewesen sein. Einige Wochen später erfuhren wir, dass er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Angeblich hatte sich Jesus ihm leibhaftig zwischen den Wolken gezeigt und ihn zu sich gerufen.
Rast auf dem Felsen
Die Geister der Toten
Der Gedanke an unsere Endlichkeit relativiert vieles. Und er erklärt vielleicht auch, weshalb es nach der Überzeugung der Aparai ursprünglich wenig Sinn machte, mehr anzuhäufen als das, was man zum Leben brauchte. Man sollte die Welt den Nachfahren so hinterlassen wie man sie von den Vorfahren übernommen hatte. Nicht mehr nehmen als einem gegeben wurde. Und sich nicht auf Kosten anderer bereichern. Man sollte achtsam mit der Welt umgehen, im Wissen, hier nur ein Gast zu sein. Möglicherweise ist diese Form der Demut auch eine Erklärung dafür, dass die Amazonasvölker jahrtausendelang ohne größere Hierarchien auskamen und weiterhin auskommen. Für sie ist es ein hohes Gut, in einer Gemeinschaft zusammenzuleben, in der jedes Mitglied gleich viel wert ist und den gleichen Respekt erfährt. Eine Gemeinschaft, in der es keine Gewinner oder Verlierer gibt und in der man in jeder Lebenssituation aufgefangen wird.
Auch in der Trauer. Wenn ein Aparai seinen Partner verliert, kehrt er zurück in den Schoß seiner Familie. Die Männer kommen zurück in ihre Heimatdörfer, die Frauen scheren sich zum Zeichen der Trauer den Kopf kahl – damit der Geist ihres verstorbenen Mannes sie nicht an den Haaren mit ins Jenseits ziehen kann. Mit der Haarpracht legt sie symbolisch auch all das ab, was sie mit ihrem Mann verbunden hat. Ich weiß noch, wie sehr ich erschrak, als ich in unserem Dorf zum ersten Mal eine Witwe sah. Die junge Frau war so hübsch gewesen und hatte ihr langes Haar immer wieder aus dem Gesicht pusten müssen, weil es ihr beim Maniokschälen oder anderen Arbeiten in dicken Strähnen in die Stirn gefallen war. Nun sah sie aus wie eine Greisin. Da sie aus Trauer fastete, war sie ungewöhnlich mager. Und die scharfen Furchen um die Mundwinkel, die in Falten gelegte Stirn und das kahl geschorene Haupt verliehen ihr eine neuartige Strenge. Die vormals so funkelnden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die Frau war keine zwanzig und schon verwitwet. Bis ein neuer Gefährte für sie gefunden war, blieben sie und ihre kleinen Kinder in der Obhut der Gemeinschaft, die ihre Anteilnahme nicht durch Mitleid im Sinne von »h erzliches Beileid« zeigte, sondern durch besondere Achtsamkeit und ein besonderes Ritual.
Schon von Weitem hörte ich eines Abends vom großen Feuer her einen tieftraurigen Ton. Es klang, als ob eine Frau bitterlich weinte, doch kurz darauf fielen noch weitere Stimmen in das Geheul ein. Ein ohrenbetäubender Klagegesang hob an, ein verzweifelter, vielstimmiger Chor.
Koi und ich fassten uns erschrocken an den Händen und schlichen uns an die Feuerstelle heran. Dort bot sich uns ein seltsames Bild. Während die Männer vollkommen entspannt dasaßen, hockten ihnen die Frauen mit schmerzverzerrten Gesichtern gegenüber. Lauthals weinten und klagten sie vor sich hin. Araiba bedeutete uns, an seiner Seite Platz zu nehmen. Nach einer kurzen Pause schwoll eine neue Welle der Klagen an. Manche Frauen warfen ihre Arme dramatisch den Flammen entgegen. Erst nach einer Weile bemerkten wir, dass die Frauen ohne Tränen weinten und dass es sich wohl mehr um rituelles Mitleiden als um echtes Schmerzempfinden handelte.
Weitere Kostenlose Bücher